Der einzige, der stört, ist der Athlet

Ewald Roscher, in Calgary noch Bundestrainer der deutschen Skispringer, betrauert vor seinem Fernseher in Baden-Baden, was aus Olympia geworden ist: Eine einzige, riesige Abzockerei  ■ Von Arno Luik

Als die große Show vorbei war und die Fernsehgesellschaften ihr teures Gerät verstaut und die Sponsoren ihre bunten Animierzelte abgebrochen hatten, ist er nochmals hinauf zur Schanze gestiegen, dorthin, wo drei Jahrzehnte lang sein Platz war, wo er seinen Jungs das Skispringen gelehrt hatte: Er, Ewald Roscher, der — so schrieben es die Zeitungen — „wie kein anderer den Wind im Blut hat“. Und dann stand er da in der Stille über der verlassenen Anlage, fröstelnd in seinem offiziellen Olympiadreß, und es war ihm klar: Das war's, aus und vorbei.

Das sollte es gewesen sein? Im Blick zurück auf diese Tage von Calgary schüttelte es ihn vor Zorn und Verbitterung. Er spürte noch dieses wohlwollende und doch so abschätzige Schulterklopfen, hörte noch die Häme, weil seine hochgelobten Athleten knapp an einer Medaille vorbeigesprungen waren. Versager — dieser Vorwurf erdrückte ihn fast.

Er hatte es immer gehaßt, dieses Starren auf den Medaillenspiegel. Weil er wie kein Anderer wußte, daß gerade in seiner Sportart, dem Skispringen, der Zufall einer sekundenkurzen Windböe über Triumph oder Tragödie entscheiden kann. Nicht umsonst sagten die Kollegen „Professor“ zu ihm — weil er mehr vom Skispringen verstand als alle Lehrbücher zusammen.

Nein, sagte er sich, ich muß das alles nicht mehr haben.

Und nun, genau vier Jahre nach diesem kalten Tag im Februar 1988, sitzt Ewald Roscher vor dem neuen Fernsehgerät in seiner Wohnung hoch über der Fußgängerzone von Baden-Baden. Und als sich der Weißflog oder der Thoma oder der Hunger in die Anlaufspur stoßen, richtet sich Roscher mit feuchten Händen in seinem Sessel auf. Und der Videorecorder läuft mit, nachher wird er sich das alles in Zeitlupe anschauen, die Flug- und Landephase studieren, das Absprungverhalten analysieren und sezieren, wird überlegen, was er ihnen jetzt sagen würde. Wenn er noch dabei wäre.

30 Jahre lang stand Ewald Roscher dort an Hang und Schanze, und daß er jetzt in Albertville nicht dabei ist — ein merkwürdiges Gefühl, bitter und befreiend zugleich.

Sicher, er kann den Jungs noch immer die Technik vermitteln und tut das auch als Jugendtrainer, aber mit ihrem Leben drumherum hat er nichts mehr zu tun. Die Maßstäbe sind verrutscht, und Erfolg ist nicht mehr das stolze Gefühl über ein paar Meter mehr, ein paar Punkte mehr als die anderen, die Rivalen; Erfolg ist, wenn die Kasse stimmt, und wer nicht abzockt, hat versagt.

Wie eine Krankheit sei der Kommerz über den Sport und die Athleten gekommen, schubweise, von Lake Placid nach Sarajewo, nach Calgary, nach Albertville, und dann...

Aber eigentlich will er gar nicht darüber nachdenken, denn wenn er das tut und darüber redet, dann klingt das ziemlich bitter für einen, der mal ein Vorbild war und es schön fände, wenn er das heute noch sein könnte. Er hat ja mit der Jugend zu tun, und möchte ein bißchen übrig lassen vom alten Traum.

Nur wenn man nachhakt, spuckt er es aus: Daß „diese neue olympische Welt nichts mehr zu tun hat mit meinem Sport“, daß der Sport „nur noch ein Anhängsel der Werbeindustrie ist“ und diese Olympischen Spiele „eine einzige Abzockerei“ geworden sind.

Nicht, daß früher alles besser war, nein, aber man konnte damals noch den Eindruck haben, es geht vornehmlich um den Sport. Ewald Roscher war damals einer der ganz Großen, Reichsmeister in der Abfahrt, später, 1959, bester deutscher Skispringer, dann hochgerühmter Trainer, dem solche olympischen Größen wie Jörg Thoma und Franz Keller, auch Walter Steiner, der wohl beste Skiflieger aller Zeiten, ihre Erfolge verdanken.

Lob und Preis hat Ewald Roscher für seine Arbeit kassiert und selbst dann noch gute Kritiken bekommen, wenn seine Athleten einmal versagten. Und wenn er mit leicht rollendem erzgebirglerischem „Rrr“ vom flügellosen Gleiten und vom Spielen mit dem Wind schwärmt, weckt er, selbst bei den Unsportlichen, wohl verdeckte Sehnsüchte, daß es jenseits von Job und Tagesroutine etwas Außergewöhnliches geben könnte — Freude am Fliegen aus eigener Kraft.

Acht Olympische Spiele hat der Bundestrainer Ewald Roscher mitgemacht. Und die Bilanz?

Eine schnelle Antwort fällt dem heute 65jährigen schwer. Enttäuschte Liebe zum Sport steckt hinter dem Zögern und auch ein bißchen Angst. Denn das wäre das Schlimmste für ihn: daß er vielleicht nur als der bruddelnde Alte, quengelnder Nestbeschmutzer, überdrehter Skeptiker verstanden werden könnte, daß er, der seinen Sport über alle Maßen liebt, plötzlich als sein Totengräber dasteht. Aus Sorge legt er sich ein Redeverbot auf: „Brems' dich, Ewald!“

Umsonst. Sein Blick zurück gerät zum elegischen Abgesang: Squaw Valley 1960 und Sapporo 1972, das waren noch Feste, traumhaft und märchenhaft schön, denn „der Athlet stand da noch im Mittelpunkt der Spiele, er war der Held, um den sich alles drehte“. Und dann? Langes Schweigen. Lake Placid 1980? Dann Sarajewo? Calgary 1988? Und jetzt Albertville?

Irgendetwas ist da endgültig verlorengegangen zwischen den häßlichen Betonbauten und in die Berge gehauenen Abfahrtstrassen. „Kalt und fremd“ findet er die Winterspiele heute. Das Olympische Dorf? Dieser mythische Ort der Freundschaft, der Wärme, der Gemeinsamkeit? Ein Gefängnis: „Alle drei Schritte muß ich meine Hundemarke vorführen und in Gewehrläufe gucken.“

Geld, Rendite, Profite: Alle sprechen sie davon, Sportler, Medien, Funktionäre, Politiker, es gehört schon zum guten Ton, über die „Gigantomanie“ des Sports zu klagen, aber es kümmert dann doch keinen, das Spiel geht weiter. Die Regeln werden mehr von CBS und ABC gemacht als vom IOC, und das weiß jeder, aber andere konstatieren das kühl und gehen zur Tagesordnung über. Er leidet darunter — Roscher, der Mann aus einer anderen Zeit. Er kann nicht vergessen, wie das war, als noch keiner von Dollars sprach und wie seltsam er es fand, als man mit Sport auf einmal Geld verdienen konnte — Sport, das war eigentlich bloß Spaß, sonst nichts.

Aber was soll er den jungen Athleten sagen, wenn sie glücklich dastehen mit dem Werbevertrag in der Hand? „Ich sage natürlich, mach's! Hol für dich raus, was drinne ist! Und mir ist zum Heulen dabei.“

Das ist seine Angst. Daß der Sport an seiner eigenen, maßlosen Gier kaputtgeht. Hat er nicht schon die olympischen Stätten ruiniert? „Grenoble ist tot, Sarajewo ist tot und Calgary ist auch schon tot. Und in Albertville stehen die Ruinen von morgen.“

Wenn man das alles zu Ende denkt, müßte man sich im Zimmer verkriechen und den Fernseher abschalten und sich nicht mehr auf die Schanze trauen, und das geht einfach nicht, denn dann wäre alles kaputt. Deshalb versucht Roscher die Flucht in vorgestanzte Redewendungen: „Das ist halt der Gang der Dinge.“ Und: „Die Zeit der Unschuld ist vorbei.“ Und: „Es gibt keinen Genuß ohne Reue.“ Doch schon beim Reden bremst er sich, scheint selbst zu spüren, wie schal und hohl diese Erklärungsversuche für das scheinbar Unvermeidliche klingen.

Und er sagt dann, und da hat Ewald Roscher plötzlich Tränen in den Augen, die er mit einer schnellen Handbewegung wegwischt: „Der einzige, der in diesem ganzen Spiel noch stört, ist der Athlet.“