Action von oben bis unten

Die Kanadierin Kerrin Lee-Gartner gewann überraschend das Abfahrtsrennen/ Katja Seizinger wurde traurige vierte  ■ Aus Meribel Matti Lieske

Oberhalb von Meribel ragt ein zerklüfteter Felsvorsprung empor, in den früher ständig der Blitz einschlug. Die Bewohner des Tales nahmen deshalb an, daß das Gestein Eisen enthalte und tauften den gigantischen Blitzableiter „Roc de Fer“, Eisenfelsen. „Roc de Fer“ heißt auch die Piste, die sich unterhalb des Eisenfelsens aus 2.260 Meter Höhe hinunter ins 1.432 Meter hoch gelegene Meribel schlängelt und auf der die Olympia-Abfahrt der Frauen ausgetragen wurde. Als die Läuferinnen die Strecke im letzten Jahr zum erstenmal in Augenschein nahmen, weigerten sie sich glatt, die mörderisch anmutende Piste hinunterzufahren und beendeten ihren Streik erst, als einige Kursänderungen für eine Entschärfung gesorgt hatten.

„Die Strecke ist gar nicht so schrecklich“, sagt die 22jährige Hilary Lindh aus Juneau in Alaska heute, „sie wurde nur so dramatisch dargestellt.“ Miss Lindh hat allen Grund, die Strecke zu mögen, denn sie gewann am Roc de Fer mit der Startnummer 16 sensationell die Silbermedaille. „Ein Hammer“, befand Katja Seizinger, die von der US- Amerikanerin, die „weder im Weltcup noch im Training“ aufgefallen sei, auf den bitteren vierten Platz verdrängt wurde.

Dabei hatte die 19jährige Favoritin, die in dieser Saison schon zwei Abfahrten gewonnen hatte und mit der Startnummer 10 ins Rennen gegangen war, noch bei der letzen Zeitnahme vor der Zieleinfahrt die weitaus beste Zwischenzeit gehabt: stolze 17 Hundertstel schneller als die spätere Siegerin Kerrin Lee- Gartner aus Kanada. Doch das gerade bei ihrer Fahrt besonders starke Schneetreiben im Tal raubte ihr am Ende die entscheidenden Sekundenbruchteile. „Ich habe keinen einzigen Fehler gemacht“, haderte sie anschließend mit dem Schicksal, aber auf dem Zielhang habe sie „eine Sperre im Kopf“ gehabt. „Ich konnte nichts sehen“, erzählt sie, „keine Bodenunebenheiten, absolut gar nichts. Da versuchst du dann halt, die Ski voll laufen zu lassen und hoffst, daß schon nichts passiert.“

Aber die Ski liefen nicht voll, zur Bestzeit reichte es trotzdem. Als kurz darauf die nach ihr gestartete Österreicherin Petra Kronberger noch ein wenig langsamer durchs Schneegestöber gebraust kam, rechnete Katja Seizinger fest mit einer Medaille. Doch dann fuhr Lee-Gartner an die Spitze, Veronika Wallinger (Österreich) schob sich dazwischen, und zu guter Letzt kam Hilary Lindh, die solch schwierige Strecken wie die am Eisenfelsen besonders liebt: „Für mich ist es gut, wenn von oben bis unten Action ist. Wenn es eine Passage zum Ausruhen gibt, dann tue ich das auch. Und das ist nicht sehr schnell.“

Ähnlich sieht es die 25jährige Siegerin aus der „Mitte von Nirgendwo“, Kanadas einsamen Westen. „Ich bin eine gute Technikerin, mir liegen die anspruchsvollen Pisten. Wenn ich Zeit zum Denken habe, denke ich meist zuviel“, meinte die Rennläuferin, die die erste olympische Goldmedaille für Kanada seit Ben Johnson holte. Im Gegensatz zu ihrem anabolen Landsmann rechnet sie jedoch fest damit, das güldene Kleinod auch behalten zu dürfen. „In unserem Sport ist Doping zum Glück kein großes Thema. Das Hauptproblem bei uns ist, in diese kleine Flasche zu pinkeln.“

12 Hundertstel, genau 2,90 Meter, trennten Kerrin Lee-Gartner am Ende von Katja Seizinger, die die Bronzemedaille nur um drei Hundertstel, 70 Zentimeter, verpaßte. Das sei eben so bei Abfahrten, waren sich alle einig, und mochten auch die unterschiedlichen Bedingungen nicht als allzu wesentlich bewerten. „Zum Gewinnen braucht es mehr als gutes Skifahren“, erläuterte die Siegerin von Meribel glücklich lächelnd, „du brauchst die richtige Ausrüstung, die richtige Startnummer, die richtige Form, die richtige Einstellung, die richtige Strecke, das richtige Rennen.“ Sechs Richtige für Kerrin Lee-Gartner am Roc de Fer.