PRESS-SCHLAG: „Wir sind Picasso“
■ Mit der „West Side Story“ wollen die Duchesnays heute abend russische Eistanz-Leidenschaft bekämpfen
Wenn sie hinter der Bande auf ihren Auftritt wartet, steht Isabelle Duchesnay gelegentlich noch massiv und erdverwachsen wie ein Preisboxer auf ihren Schlittschuhen. Doch kaum betritt sie mit ihrem Bruder Paul zum Warmlaufen vor der Pflichtübung das Eis, wirken die anderen Paare plötzlich wie überfressene Tanzbären. Mit behender Leichtigkeit gleiten die beiden Franzosen aus Kanada über die spiegelglatte Fläche, verschmelzen innig mit der Musik und reißen das Publikum im vollbesetzten Eispalast von Albertville zu ersten Ovationen hin.
Wenig später wird es ernst: Paso doble. Die 28jährige Isabelle blafft Paul ein energisches Kommando zu, und schnappt ihn bei der Hand, als wollte sie sich immer noch dafür revanchieren, daß es eine Zeit gab, in der der zwei Jahre ältere Bruder das Sagen im Geschwisterbund hatte. Diese Zeiten dürften ungefähr 25 Jahre her sein, nun schwingt Isabelle das Zepter und betont ab und zu gönnerhaft, daß Paul „auch stark“ sei. „Außerhalb des Eises ist er ein Schoßhündchen, aber gebt ihm ein paar Schlittschuhe und er wird zum Kamikaze.“
Die Pflicht ist nicht gerade eine Spezialität der Duchesnays, „obwohl wir eine Menge Fortschritte gemacht haben“ (Paul). Zwar legen sie einen rasanten Paso doble und danach einen einfühlsam getanzten Blues aufs Eis, doch ihr größtes Potential, die Kreativität, können sie nicht ausspielen und fallen in den Wertungen hinter die beiden russischen Pärchen Usowa/ Zhulin und Klimowa/Ponomarenko zurück. Vor allem, wenn Marina Klimowa aufläuft, kommen Leben und Dramatik in die Bude. Beim Paso doble sprühen die Funken, werden wilde Blicke verschleudert, graziös die Finger gespreizt; den Blues zelebrieren die beiden mit lasziver Körpersprache, schmachtender Gestik und harmonischer Sinnlichkeit. „Wir sind Picasso, sie sind Renoir“, beschreibt es Isabelle. Während die Duchesnays „einen Farbeimer nehmen und platsch, platsch machen“, steht bei Klimowa/Ponomarenko die Leidenschaft im Mittelpunkt — ein Ausdrucksmittel, das dem Geschwisterpaar verwehrt ist.
„Ihr Programm bekäme einen inzestuösen Beigeschmack“, sagt Christopher Dean, Choreograph und Ehemann Isabelles, der sich auch bei seinen Kür-Entwürfen an dieser Beschränkung orientieren muß. Nach der Revolutionsallegorie von 1990 und dem avantgardistischen Spiegeltanz des Vorjahres, der eilig über Bord geworfen wurde, weil er weder von Publikum noch Preisrichtern verstanden wurde, hat das Duchesnay-Team diesmal ein auf den ersten Blick konventionelles Motiv ausgesucht. Ein weiterer Befreiungskampf Isabelles: der Konflikt zwischen Maria und ihrem großen Bruder, dem Bandenchef Bernardo, aus der „West Side Story“.
Isabelle Duchesnay wehrt sich heftig gegen den Vorwurf, mit diesem Mainstream-Thema den Weg des geringsten Widerstandes gehen zu wollen: „Mit der ,West Side Story‘ ist es doppelt so schwer, die Leute zu beeindrucken. Wir werden beweisen, daß man auch mit dem alten Zeug etwas ganz anderes machen kann.“
Die Gelegenheit, Preisrichter und Publikum mit dem gewendeten alten Zeug schon mal vertraut zu machen, haben die Duchesnays verpaßt. Bei der Europameisterschaft fehlten sie wegen einer leichten Verletzung Pauls. „Er war nur zu sechzig Prozent fit“, verteidigt Isabelle das Fernbleiben und ist überzeugt, daß sich der Sprung ins kalte Wasser — die Premiere der neuen Kür ausgerechnet bei den Olympischen Spielen — positiv auswirken wird.
Das Publikum, das sie schon bei der Pflicht frenetisch bejubelte, werden die Geschwister Duchesnay heute abend wie überall auf ihrer Seite haben, doch das, so weiß Paul aus leidvoller Erfahrung, bedeutet gar nichts: „Die Preisrichter lassen sich davon überhaupt nicht beeinflussen.“ Und die scheinen Klimowa/Ponomarenko durchaus wohlgesonnen. Beim Blues war schließlich sogar der französische Preisrichter, der die großen Duchesnay-Rivalen beim Paso doble noch dreist vier Zehntel unter dem Durchschnitt bewertet hatte, so hoffnungslos dem Sowjetzauber verfallen, daß er in seliger Umnachtung die 5,9 zückte. Matti
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