Das geborstene Weltbild der SPD

■ Die historische Entwertung der Entspannungspolitik und die Krise der Partei

Es hätte nicht mehr der spektakulären Abstimmungsniederlage im Bundesrat bedurft, um die Öffentlichkeit vom desolaten Zustand der SPD zu überzeugen. Die Krise der Partei ist zu umfassend, als daß sie allein noch als Summe tagespolitischen Mißgeschicks erklärlich wäre. Der Niedergang gewinnt historische Züge. Mit dem ostdeutschen und osteuropäischen Umbruch im Herbst '89 ist der SPD ein Zentralstück ihres politischen Selbstverständnisses abhanden gekommen. Es war ihre Ost- und Deutschlandpolitik, die als unumstrittenes Verdienst selbst den Bonner Machtverlust überdauerte. Doch eben diese historische Leistung ist in Frage gestellt, seit die Notwendigkeit zum prekären Arrangement mit den totalitären Regimen urplötzlich entfallen ist und die beginnende Aufarbeitung des Realsozialismus den inhumanen Charakter der Verhandlungspartner von einst immer deutlicher ins öffentliche Bewußtsein rückt. Damit aber gerät der eigentliche Beitrag der Sozialdemokratie zur deutschen Nachkriegsgeschichte selbst ins Zwielicht. Der Umbruch im Osten und seine Folgen sind für die SPD identitätsbedrohend.

Das erkannte bereits im Herbst '89 — unverschämt-zielsicher — Volker Rühe, als er im Bundestag das berühmte deutschlandpolitische Credo der SPD höhnisch paraphrasierte: „Wandel durch Anbiederung!“ Zwar sah sich die Union — als direkter Erbe sozialliberaler Entspannungspolitik — damals nicht zur großen demagogischen Kampagne in der Lage, mit der die SPD als „Erfüllungsgehilfe diktatorischer Regime“ gebrandmarkt worden wäre; doch es reichte offenbar aus, daß Rühe den Sozialdemokraten die Inquisitionswerkzeuge gezeigt hatte. Seither bilden die Entwertung ihrer einst ruhmreichen Entspannungspolitik und die Angst vor den konservativen Attacken den Hintergrund, vor dem sich die Krisenphänomene der Partei auftürmen.

Vielsagende, peinliche Überreaktionen

Was bleibt von vier Jahrzehnten sozialdemokratischer Politik, wenn die beginnende Revisionsdebatte vom deutschland- und ostpolitischen Engagement der 60er und 70er Jahre nur noch Relatives übrig läßt? Diese bange, kaum ausgesprochene Frage erklärt die hochempfindlichen Reaktionen der SPD, wann immer sie neuerlich Gefahr wittert, in die Nähe der ehemaligen sozialistischen Machthaber gerückt zu werden. Ein Stasi- Spitzel als prominentes Gründungsmitglied der Ost-SPD oder Otto Schilys Verteidigungsstrategie im Dresdner Wahlfälschungsprozeß geraten da leicht zum Anlaß für peinliche Überreaktionen. Jedes einschlägige Kleinstereignis wird zur Bedrohung. Die Verteidigungsreflexe bewirken vor allem eines: Sie zeigen, wo der Schmerz sitzt.

Keine guten Voraussetzungen, um dem Zwang zu einer kritischen Neubewertung der Ost- und Deutschlandpolitik nachzukommen. Immerhin — seit mit Manfred Stolpe ein Entspannungspolitiker par excellence zur Debatte steht und das pauschale Verdikt eines stasigesteuerten Politikkonzeptes schon in der Luft liegt, melden sich zaghaft auch prominente Sozialdemokraten zu Wort. Willy Brandt und Helmut Schmidt reagieren gemeinsam (!) mit einer Ehrenerklärung für Stolpe. Sie ahnen, was die aktuelle Debatte fürs eigene Lebenswerk bedeutet. Schon deshalb ist das vorläufige Urteil wenig überraschend: Entspannungspolitik war notwendig, erfolgreich — gerade auch im Sinne der Menschen im Osten; Umstände, Mittel und Methoden waren nicht verhandelbar. „Wir würden es wieder tun“ — resümiert Jürgen Schmude.

Die SPD nimmt sich zusammen und zeigt angestrengt gutes Gewissen. Doch die Defensive, mit der sie agiert, rührt nicht allein vom Respekt vor den Verdrehungskünsten ihrer politischen Kontrahenten. Die Empfindlichkeit hat ihren realen Kern. An dem, was heute kleingeredet wird, läßt er sich mühelos erkennen: Die guten, verständnisvollen Beziehungen zu den einstigen Machthabern auf der einen, die flächendeckende Ignoranz gegenüber den Bürgerrechtlern auf der anderen Seite; dieses, von der historischen Entwicklung peinlich pointierte Mißverhältnis, markiert den — nicht erst seit der Wende thematisierten — Skandal der Entspannungspolitik.

Dabei war die Mißachtung der oppositionellen Bewegungen nicht einfach die vom Osten diktierte Grundbedingung erfolgreicher Verhandlungen; sie entsprach vielmehr zugleich dem eigenen sozialdemokratischen Politikverständnis, dem jede Bewegung „von unten“ als destabilisierender Faktor in den ansonsten kalkulierbaren Verhältnissen erschien. So absurd es heute schon klingen mag: die SPD-Entspannungspolitiker fanden viel leichter mit den Politbüromitgliedern in Prag, Warschau oder Ost-Berlin ihren modus vivendi als mit den Oppositionellen der Charta 77 oder von Solidarność. Mit ihnen wurde nicht einmal der Versuch unternommen. Daß Helmut Schmidt sich den Generalsekretär der PVAP, Edvard Gierek, sehr gut als Mitglied seines Kabinetts hat vorstellen können, während sich die prominenten Entspannungspolitiker der SPD, Brandt und Vogel, erst zu einem Treffen mit Walesa bereitfanden, nachdem „das Volk die Bühne gestürmt“ hatte, illustriert eindrucksvoll die entspannungspolitischen Prioritäten. Ein „Kreuzzug für die Individualrechte“ erschien dem ersten ständigen Vertreter in Ost-Berlin, Günter Gaus, schlicht kontraproduktiv.

Weil die oppositionellen Bewegungen und ihre Impulse einer zivilen Gesellschaft in Osteuropa ausgeblendet — wenn nicht entmutigt — wurden, ist die Ostpolitik als strahlendes Kapitel sozialdemokratischer Politik nicht zu retten. Was bleibt ist ein anfangs alternativloser Politikansatz zur Beendigung des Kalten Krieges. Insofern geriet die Bereitschaft, sich mit der osteuropäischen Nachkriegssituation abzufinden, zum Erfolgsprinzip zwischenstaatlicher Normalisierung. Doch die sture Fortschreibung des Prinzips versperrte zugleich den Blick auf die wachsenden Widersprüche in den osteuropäischen Gesellschaften. Wie weit die SPD-Strategen ihre, auf offizielle Kontakte abonnierte Ignoranz trieben, zeigte sich bis in den Oktober 1989: Selbst die Gründung der Ost-SPD erschien ihnen noch als Verstoß gegen die verinnerlichten Spielregeln des Entspannungsprozesses. Daß die Epoche endete, indem „das Volk“ die Spielregeln brach, verstellt ein für alle mal die vage Hoffnung der SPD, die Emanzipation der osteuropäischen Gesellschaften ließe sich am Ende doch noch irgendwie als erfreuliche Fortsetzung ihrer eigenen Politik verkaufen. Mit keiner noch so gewieften Interpretation läßt sich die epochale Bruchlinie verkleistern, die die Phase etatistischer Normalisierungspolitik vom gesellschaftlichen Aufbruch des Herbstes '89 trennt.

Kein schleichendes Ende der Krise

Das gilt auch für die Union, die bekanntlich keine Mühe hatte — nach dem Bonner Machtwechsel — von ihren verbalen Attacken Richtung Osten auf deutschlandpolitische Kontinuität umzuschalten. Doch weil die Union in den achtziger Jahren nichts anderes betrieben hatte als Pragmatismus pur, konnte sie mit der Wende selbstgerecht — doch vordergründig recht überzeugend — an ihre antikommunistischen Parolen von einst anknüpfen. Entspannungspolitik blieb ihr immer äußerlich; etwas, das man praktizierte, wenn es zweckmäßig erschien.

Anders die SPD, die noch 1987 gemeinsam mit der SED ihre Vorstellung von der Dialog- und damit Reformfähigkeit des realsozialistischen Regimes zu Papier gebracht hatte. Während die Union im Brustton vermeintlich gehüteter Überzeugung die Wiedervereinigung verfocht, standen die Sozialdemokraten vor den Trümmern ihres Weltbildes. Es hätte — so weiß man im nachhinein — nichts geschadet, wenn sie den Eindruck eine Weile hätten wirken lassen. Doch Willy Brandts brachiale Korrektur, die überschlaue Wende aufs nationale Gleis, mit der die Sünden der Vergangenheit verschleiert und die SPD auf gesamtdeutschen Erfolgskurs gebracht werden sollte, erwies sich — nicht nur wahlarithmetisch — als krasse Fehlkalkulation, die zudem die Partei tief spaltete. Verständlich, daß sich die SPD der Aufarbeitung ihrer Deutschland- und Ostpolitik entziehen möchte. Sie erforderte den Mut zu einer schonungslosen Debatte um das Pro und Kontra der Entspannungspolitik und damit zugleich die Auseinandersetzung mit den historischen Leitfiguren Brandt und Schmidt. Doch eine Alternative ist nicht in Sicht, die Hoffnung auf ein schleichendes Ende der sozialdemokratischen Identitätskrise gänzlich unbegründet. Die bevorstehende Auseinandersetzung — so die nicht allzu gewagte Prognose — wird an die Substanz gehen. Eine spektakulär verlorene Abstimmung im Bundesrat ist nichts dagegen. Matthias Geis