Eine lettische Woche ohne Zeitungen

■ Die Presse im Baltikum kämpft um ihre Freiheit/ In Litauen, Lettland und Estland organisieren JournalistInnen Streikaktionen und Proteste gegen neue Einschränkungen durch die „alten“ Gewalten

Berlin (taz) — Schlangen vor lettischen Zeitungskiosken, Gedrängele um die junge Tageszeitung 'Diena‘ oder andere Neuerungen im baltischen Blätterwald — all das wird es in den nächsten Tagen mit Sicherheit nicht geben: In Lettland beginnt heute eine „Woche ohne Presse“. Sieben Tage lang erscheint keine Ausgabe der Tages- und Wochenzeitungen. Mit dieser Protestaktion des Verbandes der Zeitungsherausgeber soll Druck auf die Regierung in Riga ausgeübt werden. Durch neue Verhandlungen mit der GUS, so die Forderung, sei die regelmäßige Versorgung der lettischen Zeitungslandschaft mit Zeitungspapier sicherzustellen.

Diese ist durch das zusammengebrochene Wirtschaftssystem in der ehemaligen UdSSR und seit Ende Januar auch durch die hohen Ausfuhrzölle für russische Papierlieferungen nicht mehr gewährleistet. Auch die Reserven in der baltischen Republik sind alle aufgebraucht und damit die Grundlage der sich etablierenden neuen Zeitungslandschaft. Für eine eigene Papierproduktion fehlt es dagegen weiterhin an Technologie, Rohstoffen oder Energie. Pikant an der Streikaktion ist allerdings, daß der Präsident des Herausgeberverbandes, der jetzt staatliche Fürsorge fordert, ansonsten auf größtmögliche Staatsferne besteht. Arvils Aseradens ist gleichzeitig Direktor der 1990 gegründeten 'Diena‘, einer Tageszeitung, die versucht einem nüchternen westlichen Qualitätsjournalismus zu entsprechen.

Im Unterschied zur Konkurrenz, die aus ehemaligen Parteiblättern hervorgegangen ist und sich mittlerweile recht urwüchsig auf eigene Beine gestellt hat, wurde 'Diena‘ durch einen Parlamentsbeschluß ins Leben gerufen. Aus Steuergeldern stammte denn auch die Anschubfinanzierung. Formal gilt das Blatt zwar noch als Staatseigentum. Seit November letzten Jahres liegt aber ein von der Belegschaft getragener Vorschlag auf dem Tisch, den Betrieb zu privatisieren bzw. in eine Anteilsgesellschaft zu verwandeln. Parlament und Regierung in Riga üben sich jedoch in Verzögerungstaktiken. So mancher Politiker möchte sich offensichtlich die Möglichkeit eines Zugriffs auf 'Diena‘ bewahren.

Die Redaktion bemüht sich derweil, ihren „kritischen Journalismus“ beizubehalten. Entsprechend entgeistert reagierte sie, zusammen mit anderen Zeitungsleuten, als im November der frisch wiedergewählte Vorsitzende der Volksfront androhte: „Wir brauchen eine Presse, die den Interessen des lettischen Volkes dient.“ Es geht also auch um die Pressefreiheit bei der „Woche ohne Presse“ - und: Um die Entflechtung von Staat und Meinungsmachern.

Mit einer ähnlichen Aktion hatten bereits die litauischen Kollegen Ende letzten Jahres von sich reden gemacht. An einem Samstag erschienen gleich fünf der führenden Tageszeitungen (Gesamtauflage 800.000 Exemplare) mit drei leeren Seiten. Auf der vierten prankte ein Aufruf an die Regierung, endlich für eine Entflechtung von Staat und Presse zu sorgen. Der Protest zeigte Wirkung: 'Tiesa‘ und 'Valstiecu Laikrastis‘ erhielten von der Regierung umgehend die Erlaubnis zur Privatisierung. Die Verhandlungen mit den Redaktionen von 'Lietuvas Rytas‘, 'Respublik‘ und 'Vakarines Naujienas‘ dagegen ziehen sich hin.

Aber auch in Estland befürchten JournalistInnen Versuche der drei „alten“ Gewalten, den Medien Zügel zu verpassen. Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht der Artikel 19 der neuen estnischen Verfassung. Nach dem Entwurf hat zwar „jeder Mensch das Recht, sich Informationen frei zu beschaffen und zu verbreiten“, gleichzeitig können diese Freiheiten durch ein Gesetz eingeschränkt werden — „aus Gründen der staatlichen Sicherheit, öffentlichen Ordnung und staatlichen Verteidigung“.

Marianne Trusti, Korrespondentin der Tageszeitung 'Postimees‘, hält diese sehr dehnbaren Formulierungen für eine empfindliche Einschränkung der Pressefreiheit. Dadurch bestünde abermals die Möglichkeit, „eine bestimmte Art von Literatur zu verbieten, Radio und Fernsehen zu schließen — oder eines Tages auch 'Postimees‘“. rob