Das Kammergericht und die Wahrheit

Im alt-neuen Strafverfahren gegen Erich Mielke wird auf die Ermittlungstätigkeit des „SA-Sturms 2/10“ zurückgegriffen/ Hitler begnadigte den Kronzeugen/ Der Bericht eines Mithäftlings legt nah: Der Hauptbelastungszeuge wurde gefoltert  ■ Von H. D. Heilmann

Mit Beschluß vom 27.Januar 1992 gab das Berliner Kammergericht grünes Licht für die derzeitige Nazi- Anklage gegen Erich Mielke: „Durchgreifende Anhaltspunkte“ für die Behauptung der Verteidigung, der Prozeß sei 1934 ohne Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze geführt worden, seien nicht ersichtlich. Aus der Nazi-Herrschaft folge nicht zwangsläufig, daß die Aussagen der damaligen Angeklagten inhaltlich falsch „und — wie die Verteidigung ohne Angabe von Gründen mutmaßt — manipuliert waren“. Schließlich sei auch „der vermeintliche ,Kronzeuge‘ Klause aufgrund seiner eigenen Angaben zum Tode verurteilt und später nicht begnadigt“ worden; weder das Urteil „noch sonst die Akten“ ließen das Kammergericht erkennen, daß das damalige Verfahren, wie die Verteidigung gerügt hatte, unter „faschistischer Diktion“ durchgeführt worden sei. Jede dieser Feststellungen des Kammergerichts ist falsch.

Wie schon gesagt: Es ist Sommer 1933, und überall spritzt's Kommunisten- und auch schon ein bißchen Judenblut vom Messer. Die zeitgenössische Heldengeschichtsschreibung formulierte das so: „Die Ausrottung des Marxismus in der Hauptstadt in jeglicher Gestalt und Form wurde nun die Aufgabe, die die SA in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden zu lösen hatte. Der Kampf gegen die letzten roten Terrorversuche, die Durchsuchungsaktionen, die Aushebung der Terrornester, die Aufstöberung der illegalen Organisationen, die Beschlagnahme von Waffen und Propagandamaterial dauerten bis in den Sommer 1933 und waren blutig und schwer.“

Da es im Bülowplatz-Urteil des Berliner Schwurgerichts von 1934 auf den Seiten 66, 90, 102, 108 steht, müßte dies auch dem Kammergericht und der erkennenden 23. Strafkammer bekannt sein: Die Ermittlungen in der Sache „Bülowplatz“ nahmen im Frühjahr 1933 nicht die Justiz oder die Kriminalpolizei auf, sondern die SA; und zwar der „Sturm 2/10“ mit Truppführer Kubick an der Spitze. Albrecht Kubick (Reinickendorf) führte ursprünglich den „S.Sturm 102“ (Wedding), der im Laufe des Jahres 1933 dem 2. Sturm (Prenzlauer Berg) des 10. Sturmbanns eingegliedert wurde. Im Jahr 1933 unterschieden sich SA und SS noch wenig; die „eigentliche“ (Himmler-)SS gab es noch nicht. Vermutlich gehörte der S.Sturm 102 zur Zeit der von seinen Mannen geführten Verhaftungen und „Ermittlungen“ zur SS, denn wie die „SS- Gruppe-Nord“, so lieferte auch diese Truppe ihre menschliche Beute in die „Friesenkaserne“ ein, also in das „Columbia-Haus“, das bekanntlich das damalige SS-KZ der Reichshauptstadt war und als Folterhölle bereits seit 1933 traurige Weltberühmtheit erlangte.

Weichgeklopft landeten die Schutzhäftlinge dann im Polizeigefängnis Alexanderplatz oder bei der Stapo Prinz-Albrecht-Straße. Darunter auch die späteren Angeklagten des Bülowplatz-Prozesses. Diese Strafsache bereitete der Untersuchungsrichter Assessor (bald Landgerichtsrat) Thierbach vor. In der KP-Überlieferung gilt der Angeklagte Michael Klause — wohl zu Unrecht — als Provokateur der Schießerei auf dem Bülowplatz im Jahr 1931 und als Polizeispitzel und Verräter. Vor Gericht war Klause Hauptbelastungszeuge gegen seine ehemaligen Genossen; seine Aussagen waren 1934 und sind 1992 Dreh- und Angelpunkt für Anklage und Urteil.

Wie rechtsstaatlich waren die Verhörmethoden?

Wie in die Emigration berichtet wurde, brachte er seine Aussagen teilweise unter ständigem Schluchzen und Weinen vor, stammelte hysterisch. Da das Verhandlungsprotokoll angeblich „verschwunden“ ist, obwohl die Berliner Justizsenatorin noch vor einem halben Jahr die Existenz des Protokolls behauptete, ist man zunächst einmal auf andere Überlieferungen angewiesen. Die Aussagewilligkeit auch und gerade des Angeklagten und Hauptbelastungszeugen Michael Klause wurde mutmaßlich durch Folter erzwungen. Dies geht hervor aus einem schon im Herbst 1933 in der Emigration erstatteter Bericht des aus Berlin geflohenen Hellmuth Krug, Mitglied derselben Formation, der einst auch Klause und die meisten Angeklagten angehört hatten: dem „Partei-Selbstschutz“. Der Bericht Krugs steht exemplarisch für die Art und Weise, wie die Angeklagten des späteren Bülowplatz-Prozesse gefangengenommen und mißhandelt wurde, es heißt dort:

„Am Mittwoch, den 27.September 1933, morgens 1/2 fünf Uhr erschienen in meiner damaligen Wohnung Neukölln, Hobrechtstraße 14 Beamte der Geheimen Staatspolizei und hielten Haussuchung. Ihre Frage, ob ich im Besitz von Waffen sei, verneinte ich. Eine Waffe war vorhanden, wurde aber nicht gefunden. In der Küche fragte mich der Kriminalgehilfe Polenz: Sage mir Krug, wer ist beim Kader (gemeint war der P.SS.)? Ich verneinte, gab aber zu, in der KPD Mitglied gewesen zu sein. Ich wurde im Auto nach der Prinz-Albrecht-Straße Zimmer 243 überführt. Das Zimmer war verschlossen, und ich kam ins Verhör. Ich mußte militärische Haltung annehmen, und mir wurde eine Liste mit Namen vorgelegt. Behalten habe ich die Namen: Wichert, Klause, Friedrich Bröde, Hollstein, Vulkan, Walter Neumann, Krug, Karl Zager und Karl Röder. Ich lehnte ab, jemand davon zu kennen und wurde zerschlagen. Schwerer Schlag auf den Hinterkopf, Nasenbeinbruch, Schienbeinverletzung. Zwischendurch wurde gesagt, man wisse ich sei der Waffenmeister von Neukölln. Ich stritt alles ab. Die Vernehmung dauerte zirka eine Viertelstunde. Dann sagte Polenz zu mir: In 24 Stunden hätten sie alles raus, und man würde mir den Arsch genauso vollhauen, wie M. Klause und F. Bröde, denen er geplatzt wäre. Dann durfte ich das Blut abwaschen und wurde zur SS-Wache gebracht und mit dem Gesicht zur Wand gestellt. Von hier aus wurde ich von SS-Leuten im Auto zur Koloniestraße gebracht. In der SS-Wache (Sturm 42, Reinickendorf) wurden meine Personalien aufgenommen und zum Sanitäter III. Etage gebracht. Vor mir ging ein Gefangener, nur mit Hose und Schuhen, dessen linke Rückenhälfte schwarz blutunterlaufen war. Nachmittags um fünf Uhr wurde ich wieder zur Vernehmung geführt. Anwesend waren: der Kriminalgehilfe Polenz, der Obertruppführer Kubick und der SS-Mann. Der Obertruppführer K. las mir noch einmal die Liste vor bis zu meinem eigenen Namen. Ich leugnete wieder, jemand zu kennen. Zwischendurch wurde ich immer wieder mit einem meterlangen Knüppel, an dessen Ende ein Gummischlauch übergezogen war, auf Handrücken und in die Kniekehlen geschlagen, mehrmals auch mit der Hand an den Kopf und ins Gesicht. Kubick sprang auf mich zu, schlug wieder mit dem Knüppel, während ich stramme Haltung annehmen mußte. Durch die Mißhandlungen heruntergekommen, konnte ich seinen Auslassungen nicht mehr folgen, so daß er Befehl zum Abführen gab.“

Krug wurde dann in den folgenden Tagen noch furchtbarer gefoltert; schließlich gab er die ihm bekannten Waffenlager preis, wurde am 23. Oktober freigelassen und ging dann wegen erneut drohender Verhaftung in die Emigration.

Michael Klause wurde im Bülowplatz-Prozeß zusammen mit Friedrich Bröde und Max Matern zum Tode verurteilt. Der Berliner Generalstaatsanwalt und der Präsident des Landgerichtes lehnten ihre Gnadengesuche in toto ab. Fritz Bröde hängte sich in der Zelle am Riemen seines Holzbeines auf.

Max Matern wurde am 22. Mai 1935 in Plötzensee, also dort, wo der Berliner Senat gelegentlich Kränze ablegt, mit dem Handbeil der Kopf abgehackt. Da aber der Untersuchungsrichter Thierbach und die Gestapo die Dienste Klauses als Kronzeugen gewürdigt sehen und sie ihn für alle Fälle noch aufheben wollten, befürworteten sie seine Begnadigung. Anders als das Kammergericht behauptet, wurde Klause deshalb von Adolf Hitler begnadigt, der das Todesurteil am 2.Mai 1935 in „lebenslänglich“ umwandelte. Klause saß im Zuchthaus Brandenburg. Am 7. Februar 1942 wurde er aufgrund von Entscheidungen, die noch nicht rekonstruiert werden konnten, in Plötzensee mit dem Fallbeil enthauptet.