Schepper Klirr

■ Zehn Jahre Kleines Kreuzberger Geräuschorchester

Die Katharsis an jenem Februarabend begann mit dem Verzehr von Heringshappen in Dill zum Abendbrot und endete im Nieselregen auf der Kreuzberger Nostitzstraße. Zwischen beiden entspann sich ein Konzert anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Kleinen Kreuzberger Geräuschorchesters. Unter dem freundlichen Titel Jubilate Kantate führten Helmut Jungblut und sein Sekundant durch ein Programm, dessen stur durchgehaltene Sinnfreiheit lediglich von einer bemerkenswerten Nachlässigkeit bei der Präsentation übertroffen wurde.

Die Suche nach neuen, bisher unentdeckten Klangräumen und der Anspruch, Hör- und Sehgewohnheiten auch eines aufgeklärten Publikums gegen den Strich zu bürsten, führte die beiden Tonkneter mit schütterem Haar auf geradem Weg zu den Inseln hinter dem Winde — dorthin, wo die alten Hüte wachsen. Dem Wunsch des Publikums nach einem anregenden multimedialen Kulturereignis begegneten sie mit vorgeschützter Nichtskönnerarroganz, um den Genuß der Darbietung nach Kräften zu behindern.

Der schnörkellosen Gliederung des Programms nach dem Schema »ein Lied, ein Tonfilm« entsprach der Minimalismus bei der Ausführung der Stücke. Die wenigen Töne, die während der 70minütigen Performance live gespielt wurden, führten dem Publikum durch kompromißlose Klischeehaftigkeit die eigene, konsumistische Grundhaltung vor. Das InstrumentalsoloII etwa kam mit wenigen, auf der halbakustischen Gitarre ausgeführten Clustern aus, um — bei einer musikalischen Transparenz wie der des Besetztzeichens — einen Eindruck heftiger Langeweile zu erzeugen. Bruchstücke von Erinnerungen aus der kindlichen Erlebniswelt rief dagegen das Finale für Klavier, Bratwurst und Feuerwerk mit Luftballon-Explosionen, Tischfeuerwerk und heftigem Gegen-das-Piano-Treten hervor. Ferner wurden eine Kaffeemaschine und ein Wasserkocher als eigenständige Musikinstrumente vorgestellt. Doch noch bevor Kunstbeflissene sich an der rohen Umwelt-Musik so recht laben konnten, war der originelle Ausreißer des Geräuschorchesters auch schon vorüber.

Dem ganzheitlichen Gedanken verpflichtet, schufen die beiden Musiker im Seitenschiff ein Environment, das durch das Aufstellen von Biergartenbänken anstelle einer Bestuhlung und den Verzicht auf eine Heizung alle sinnlichen Eindrücke zu einer Einheit verschmelzen ließ. Das Veranstaltungslokal von der Größe eines Zimmertheaters erhielt dadurch das Gepräge eines kultischen Sitzungssaals.

Auch die Vertonung der vier Kurzfilme, die mit Hilfe eines Video-Großprojektors an die Wand des kahlen Veranstaltungsraums geworfen wurden, war der ganzheitlichen Idee verpflichtet. Das offenkundig aus den siebziger und frühen achtziger Jahren stammende Material darf als Reminiszenz an jene unbegabten Videokünstler verstanden werden, die von der Öffentlichkeit nicht beachtet oder vergessen worden sind. Nachdenkliche Blicke im Zuschauerraum: Sind nicht auch sie, die Schlechten und Selbstgerechten, ein Teil unserer eigenen Erlebniswelt als kulturell Interessierte? Und damit der ganzen Schöpfung?

Im Zeitraffer wird ein Rind zu den sphärischen Klängen geistlicher Chormusik geschlachtet, amerikanische Bombenflugzeuge fliegen zum Gitarrengejuckel gegen den Feind und Porno-Szenen wird die Tonspur einer Tanzsportveranstaltung unterlegt. Angesichts der gequälten Kreatur verläßt ein Vegetarier den Raum. Ein älterer Herr und drei Damen folgen ihm. Gnadenlos ruft das Kleine Kreuzberger Geräuschorchester seinem Publikum die Inkubi aller unnütz besuchten Kunstveranstaltungen zurück ins Gedächtnis, um es geläutert in die Regennacht zu entlassen. Stefan Gerhard