»Mit teterowschem Schwung rin in die Frühjahrsbestellung«

■ Journalismus in der DDR: Zeitungmachen zwischen Linienvorgabe und der Suche nach den kleinen Unterschieden — ein Gespräch mit dem ehemaligen Chefredakteur der Wochenzeitung 'Sonntag‘, Wilfried Geißler: »Das ist unsere Zeit gewesen, das ist unser Leben gewesen«

Berlin-Mitte. Der Pensionär Wilfried Geißler, 56, ehemaliger Chefredakteur der Wochenzeitung 'Sonntag‘, macht es sich auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer im dritten Stock eines Altbaus mit Blick auf die Straße bequem. Wilfried Geißler war nicht nur in der „Nische“ der Kulturzeitung tätig, sondern arbeitete auch jahrelang im ungeliebten Tagesgeschäft der Dorfzeitungen. Seine Frau ist Konditorin und bewirtet uns fachmännisch mit Kaffee und Gebäck. Später gibt es Radeberger Bier. Am Rand spielt ein Kind „Tetris“.

Walter Benjamins „Berliner Kindheit“ und „Die Troika“ von Markus Wolf haben Ehrenplätze auf dem Bücherregal. Herr Geißler entschuldigt sich am Ende, daß er vieles vielleicht doch zu positiv dargestellt habe, und am Anfang, daß er etwas nuschle: Er sei gerade in Zahnbehandlung.

taz: Viele ehemalige DDR-Journalisten, wie Ihr ehemaliger Kollege Wolfgang Sabbath, sagen ja, daß die Zeit nach der Wende die schönste gewesen wäre?

Wilfried Geißler: Das ist die reine Wahrheit. Ich kann das nur unterstreichen, was der Wolfgang Sabbath sagt. Und ich hab' ja auch mit anderen Kollegen gesprochen aus ganz anderen Zeitungen. Nicht nur aus Kulturzeitungen, sondern von Tageszeitungen. Gerade erst gestern habe ich mit meinem Schwiegervater gesprochen. Der war seit 62 Landwirtschaftsredakteur bei der Bezirkszeitung 'Freie Erde‘. Und der hat mir gesagt, das sei die schönste Zeit gewesen. Die beste Zeit für Journalisten. So hätte ihm sein Beruf nie wieder Spaß gemacht. Vorher hatte es ihm keinen Spaß gemacht, und jetzt ist er, seit einer Woche, im Vorruhestand. Mit sechzig abgeschoben.

Nach dem 7.Oktober gab es ja auch die ersten Sendungen der Aktuellen Kamera, die sehr freizügig waren. Und auch DT 64 bzw. elf99 hauten da dazwischen. Ich meine, in dieser Euphorie sind ja auch Dinge passiert, wo ich heute sage: na lächerlich. Stichwort Wandlitzenthüllungen. Das war ja eigentlich ein Lacher. Aber diese Enthüllungen waren für mich ein sicheres Indiz, daß sehr viele Journalisten die staatliche Gängelung schon unerträglich fanden. Sie waren eigentlich schon darauf programmiert, wie ein Journalismus zu machen sei, wie man so einen Journalismus machen müßte, der auch bei den Massen ankommt. Der von den Leuten abgenommen wird. Wo die Wahrheit gesagt wird. Diese furchtbare Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Berichterstattung in den Massenmedien, das hatte doch die Leute mit am meisten frustriert.

Es gab da in der DDR doch auch den Wechsel zwischen Eiszeit und partiellen Freiheiten?

In den sechziger Jahren, als ich noch bei einer Tageszeitung war, haben wir, um es mal ganz konkret zu machen, zwei ganze Seiten über einen jungen Mann geschrieben, der in Neubrandenburg von der Schule fliegen sollte, weil er ein bißchen wider den Stachel löckte und, was das Schlimmste war, in Jeans immer zur Schule kam. Der wusch seine Jeans dann noch öffentlich auf dem Schulhof in einem großen Bottich oder stieg da mit seinen Jeans hinein, damit die auch recht sitzen, wie man das so gemacht hat, die Jugendlichen. Und es gab einen unerhörten Eklat; der sollte relegiert werden, und wir haben dann einen kritischen Artikel geschrieben mit der Überschrift: „Rausschmeißen oder erziehen?“ Und der Artikel hat bewirkt, daß er nicht von der Schule geschmissen, sondern nur versetzt wurde an die Erweiterte Oberschule in Waren.

In den sechziger Jahren war es auch besser, was Funktionärskritik anging. Mein Schwiegervater fuhr mal mit Kollegen nach Prenzlau, um den Ratsvorsitzenden zu besuchen. Der war aber zum hohen Erntewetter auf der Datsche oder im Urlaub. Haben sie seinen leeren Schreibtisch fotografiert. Und haben geschrieben: Hier hofften wir eigentlich den Ratsvorsitzenden Soundso zu finden. Während die Genossenschaftsbauern sich auf den Feldern abplagen, war er jedoch dort und dort. Das wär späterhin vielleicht noch im 'Eulenspiegel‘ möglich gewesen, aber inner Tageszeitung, inner seriösen: ,Habt ihr was am Kopp, oder so ...‘

Gab es eigentlich Unterschiede innerhalb der Tageszeitungen?

Also was die große Politik betraf, die wurde sehr stark von der Abteilung Agitation durch die sogenannte „Argu“ gelenkt. Jeden Tag kam da eine Argumentationslinie zu den wichtigsten politischen Ereignissen und wer einen Kommentar schrieb oder einen Leitartikel, der mußte sich dieser Argumentation bedienen. Die lokalen Dinge wurden im wesentlichen von der Bezirksleitung initiiert, bestimmt und angeschoben.

Viele haben ja gesagt, wir brauchten bloß noch eine Zeitung. Es steht in allen dassselbe drin. Das betraf aber nur den Teil, wo's um große Politik ging. Sonst war das Niveau unterschiedlich. Und es gab auch Unterschiede in der politischen Gangart. Also einmal war diese Zeitung führend; dann 'ne andere. Da gab's dann bestimmte Dinge, wo man sagt: Da mußt du die Zeitung angucken, die ist jetzt da führend. Erfurt, die trau'n sich was. Einen der letzten großen Eklats verursachte ja die 'Ostseezeitung‘-Rostock. Bekannt unter dem Stichwort: ,die sogenannten Rostocker Ereignisse‘. Zwei Jahre vor der Wende hatten die eine Diskussion unter Gesellschaftswissenschaftlern initiiert, wo das Leistungsprinzip zur Diskussion gestellt wurde und wo gefragt wurde, ob das Netz sozialer Sicherheit nicht nur Stimulus gesellschaftlicher Entwicklung sei, sondern auch Lethargie verbreiten würde. Und da gab's einen riesengroßen Krach. So was gab's dann alle fünf Jahre mal.

Wie sind Sie eigentlich zum Journalismus gekommen?

Zunächst, weil ich gerne geschrieben habe. Weil ich Lust am Formulieren hatte. Aber es spielten auch weltanschauliche, politische Motivationen eine Rolle. Um der Sache zu dienen, wäre ich auch Politoffizier bei der Nationalen Volksarmee geworden, wenn ich nicht aus gesundheitlichen Gründen da abgelehnt geworden wäre.

Ich komm' ja aus einem Elternhaus, wo man natürlich sehr stark dem, was wir so „proletarische Traditionslinien“ nannten, verbunden war. Nun kommen sicher noch sehr individuelle Gründe hinzu: Ich war als Kind sehr krank gewesen. Ich bin 1945 erst mit zehn Jahren in die Schule gekommen. In der Nazizeit wurde ich drei Jahre zurückgestellt vom Unterricht und hab' das immer irgendwie den Nazis angelastet, daß sie mich in der Schule nicht haben wollten. Natürlich war's auch so. Sie kennen ja diese Losung: Flink wie die Windhunde, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder. Über alle drei Eigenschaften verfügte ich nicht. Und dann kam ich nun 45 zur Schule und freute mich und schrieb das natürlich den Kommunisten und der neuen Zeit zu Buche.

Ich war also sehr gläubig. Ich hab' auch geglaubt, daß die Leute, wenn sie nur genug Beethoven hören und gute Literatur lesen, geläutert werden und so was: „die gebildete Nation und Persönlichkeit...“ Wir haben das ja ziemlich kurzschlüssig behandelt. In der 'Freien Erde‘ hatten wir zum Beispiel mal ein Theaterstück, das im Melkermilieu spielte, und dann glaubten wir tatsächlich, daß sich im nächsten Monat die Milcherträge in der Landwirtschaft steigern würden. So kurzschlüssig wurde das gehandelt.

War der Tagesjournalismus in der DDR nicht ziemlich langweilig?

Das entsprach in meinem Fall bestimmt nicht dem Bild des rasenden Reporters. Das ist ja schon ein Unterschied, ob man von Kontinent zu Kontinent eilt und sich am Puls des Weltgeschehens befindet oder in Teterow oder in Röbel oder in Malchin, wie die Dörfer alle da heißen, Kreisredakteur ist. Das ist schon wahr. Der Prodekan an der Journalistischen Fakultät in Leipzig — ein proletarischer Journalist, muß ich sagen — der hatte zu uns mal gesagt: „Jungs, wenn ihr viel reisen wollt, dann müßt ihr nicht zur Fakultät für Journalismus gehen, sondern müßt zur Reichsbahn oder zur Lufthansa gehen.“ Diese Illusion hatten wir also nicht.

Diese Jahre als Journalist in einer Dorfzeitung möchte ich aber eigentlich nicht missen. Weil ich soviel mit Leuten zu tun hatte und jeden Tag und mit den einfachsten und hirnrissigsten Problemen auch, die's für die Leute gab. Das war gut, daß man einfach nicht so abhob, sondern immer wußte, was die Leute bewegt. Und außerdem war man jung. Ich hatte viele Kumpels aus den verschiedensten Gebieten. Lehrer, Juristen, Künstler und was weiß ich. Also: Das war nicht langweilig.

Ab und zu gab es natürlich auch Probleme. In Teterow gibt es zum Beipiel diesen berühmten Bergring. Das ist, wenn man den Motorsportfans Glauben schenken will, die schönste Grasrennbahn in Europa für Motorräder. Die ist wirklich sehr idyllisch gelegen und wunderbar, und man kennt die überall. Und in einem Jahr wiederum ging's mit der Frühjahrsbestellung nicht so recht voran im Kreise Teterow. Und der Agitationssekretär der SED- Kreisleitung hatte 'ne ungeheure Idee. Er sagt: „Wilfried, wir sollten doch diese Popularität des Teterowbergrings nutzen und sollten eine populäre Losung vielleicht aufstellen. Die könnte am Ende heißen: ,Mit teterowschem Schwung / rin in die Frühjahrsbestellung.‘ Und das drucken wir jeden Tag auf der Kreisseite ab. Dazu ein Profil des Bergrings, und da sind vier Motorradfahrer, die herumflitzen. Das eine ist die MTS Nelkendorf, das andere ist die MTS Boddin, Kirkow und Niendorf, und die überbieten sich nun jeden Tag, wer am schnellsten ausgetäut hat. Und das wird die Leute ungeheuer interessieren, das wird sie animieren, und da werden sie regelrecht high. Das wird ein Kracher wird das. Eine satirische Zeitschrift sind wir ja nicht, dachte ich. Aber das war sehr ernst gemeint. Und das hat er dem Sekretariat der Kreisleitung unterbreitet. Die Genossen haben dann genickt und fanden das auch alle prima. Und ich war zu feige, um zu sagen: ,Also, das ist doch Schwachsinn.‘ Und was einmal in so einem Gremium bestätigt wurde, war Beschluß. Und den durfte man nicht revidieren. Den mußte man erfüllen. Und ich hab' das nicht gemacht. Weil ich es doch doof fand, wenn die Leute vor dem Fenster der Kreisredaktion — da hatten wir so einen Schaukasten — davorgestanden hätten und sich vor Lachen ausgeschüttet hätten. So nach dem Motto: „Die sind doch blöd.“ Das wollt' ich einfach nicht. Ich wollte die Zeitung nicht lächerlich machen.

Nun hab' ich das also nicht gemacht. Und dann hab' ich eines Tages gesagt: „Also Genossen, hört mal zu. Ich hab' das nicht gemacht, weil: Ich find' das doof. Ehrlich. „Doof“ hab' ich vielleicht nicht gesagt. Ich hab gesagt: „Ich find' das nicht massenwirksam genug. Ich möchte nicht, daß die Leute über die sozialistische Presse lachen.“ Und dann haben die ganz ernst geguckt und gesagt: „Das hättest du aber eher sagen müssen. Das haben wir nämlich beschlossen. Und du weißt, wer Beschlüsse nicht erfüllt, sondern revidieren will, was ist der? — Ein Revisionist! Also wirst du bei der KPKK, bei der Kreisparteikontrollkommission, einen kleinen Zettel hinterlegen, daß du nicht die Absicht hattest, die Parteibeschlüsse zu revidieren. Und daß du auch kein Revisionist bist.“ Und das mußt' ich machen. Solche Schnurren gab's ne Menge.

Wie denken Sie rückblickend über Ihre DDR-Zeit?

Das ist meine Zeit gewesen. Das ist unser Leben gewesen. Unsere Zeit. Vieles hat man ja auch mit den Jahren erst anders reflektiert. Aber so in einem furchtbaren Groll. So wie Kollegen, die sagen, „uns sind 40 Jahre gestohlen worden“, so denk' ich nicht darüber. Das Gespräch führte Detlef Kuhlbrodt