Florschuetz, von der Hand in das Auge

„Belvedere“: Schöne Aussichten auf das erlöste Fleisch  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es gibt kein mißlungenes Bild, hat Thomas Florschuetz einmal gesagt, und in diesem Sinne ist er auch kein Fotograf. Dennoch, er besitzt eine Kamera und gelegentlich, wenn ihm die Bilder ausgehen, setzt er sich ans Fenster und hält seinen Daumen oder Zeigefinger gegen eine farbige Pappe. Oder er wendet die Kamera in sein Gesicht.

Seit drei Jahren wird geflüstert, Florschuetz, der sich in Berlin bisher durch keine Galerie hatte vertreten lassen, habe internationales Format. Soll heißen: sei wettbewerbsfähig auf einem Markt, in dem eine visuelle Sprache so plakativ sein muß, daß sie fast auf Anhieb verstanden wird. Und so reich an Varianten, Potentialen und Ausgängen, daß die Geschichte des Individuums „Künstler“ in der Entfaltung des Werks wiederum belegt werden kann. Denn keine Sehnsucht der Postmoderne hat sich so wenig erfüllt wie die Abschaffung der Autorenschaft.

Belvedere heißt die erste große Einzelausstellung von Florschuetz in Berlin: In der weiten, grellweißen Fabriketage der Galerie „vier“ im Prenzlauer Berg (deren neue Räume mit Florschuetz eröffnet wurden) und in den drei mondän-bürgerlichen Zimmern der Galerie „Nikolaus Sonne“ in der Kantstraße, im Zentrum des nun ehemaligen Westens.

Reflex und Exegese

Wenn es denn der Leib Christi ist, ist es dessen Vor- und Rückseite zugleich: das Weiche des Bauchs, die dunkle Mittelteilung des Rückens. Der zweite Blick offenbart, daß die Farbfotografie den inneren Handwurzelbereich eines Menschen zeigt, die Stelle, an der die versuchten Selbstmörder so ungeschickt herumsägen. Oder wo der Puls gefühlt wird. Der dritte Blick gibt einem das erste Bild zurück, den Torso des Gekreuzigten. Wie in jeder gelungenen Metapher gefährdet das Sinnliche den Sinn und umgekehrt: Was „gemeint“ ist, ist zugleich evident und verborgen. „Reflex und Exegese halten sich in Schach“, schreibt Durs Grünbein im Katalog.

Eine Variante des Motivs, eine Spur heller, verschiebt den Anschnitt und die Assoziation. Die Stelle, wo die faltige Handwurzel den Arm (nach unten) verbreitert, erscheint noch deutlicher als menschliches Becken und zeigt doch nur Haut (am Beginn der Lebenslinien). Die Geste, die man zu sehen meint, erinnert vage an die fast noch geschlechtslose Koketterie junger Mädchen.

So wie Florschuetz Assoziationen antippt, ergeben sie eine Kettenreaktion, und weil die Impulse sich aus unserem Sinn für das speisen, was wir für wirklich halten, müssen seine Bilder Fotografien sein. Im geprügelten, verderblichen, alt gewordenen, geschundenen und erlösten Fleisch erkennen wir uns selbst, auch wenn das Modell der hochmetaphorischen Partiale niemand anders ist als Florschuetz selbst.

Zum Staunen

Konterpart seiner schönen Aussichten auf die eigenen Arme und Hände ist sein Auge, das blicklos erscheint, in einem mannshohen Farbbild als Weigerung: ins Lilane gespanntes Fleisch, das sich um einen dunklen, vertikalen Spalt schließt. Es ist wunderlich für einen, der im sozialistischen Sachsen groß geworden ist, aber man hat bei Florschuetz den Eindruck, er wolle den düsteren Spind des Katholizismus mit dem Besen der Beichte auskehren; oder die Gewalt der Pornographie mit der Leiblichkeit der Renaissance bezwingen. Sein Mittel ist — seit er 1987 zum ersten Mal in den USA (Stipendiat) gewesen ist — die Farbe. Vor satt rot-, zitronengelb- oder tieforange-farbenen Hintergründen saugen die Körperteile ein gedämpftes Licht auf; im Gegenlicht verwandelt sich die Rasse; in den Glanzlichtern wird das Alter forciert. (Im Licht eines geschlossenen Zelts erlebt man an sich solche Wunder.) Nie sieht man bei Florschuetz ein Geschlecht. Und wer es dennoch meint zu sehen, wird staunen, nicht erröten.

Thomas Florschuetz: Belvedere (Fotografien). Galerie vier, Schwedter Straße 263, und Galerie Sonne, Kantstraße 138. Bis zum 14.März 1992.