Ein Brief Togliattis wird zum Rohrkrepierer

Italiens Vergangenheitsbewältiger schießen sich ins Bein: Der Brief von KPI-Chef Togliatti, der als Beleg für dessen „Billigung des Massenmordes an Soldaten“ galt, wurde verkürzt und teilweise gefälscht/ Nun macht sich das Industriellenblatt 'La Stampa‘ an die Ehrenrettung des Stalinisten  ■ Aus Rom Werner Raith

Wer noch eines Beweises bedurfte, mit welch geringen Mitteln man angeblich todsichere Beweise aus Ost- Archiven basteln kann, muß derzeit nach Italien sehen. Dort waren vor zehn Tagen im Nachrichtenmagazin 'Panorama‘ und tags darauf, mit Faksimile versehen, in der römischen Tageszeitung 'Il Tempo‘ böse Berichte über ein im Komintern-Archiv in Moskau aufgefundenes Schreiben des ehemaligen KPI-Vorsitzenden Palmiro Togliatti an einen Parteigenossen aufgetaucht: Danach hat der damals international einflußreiche Kommunistenchef 1943 gegenüber einem Parteigenossen eine Intervention zugunsten mehrerer zehntausend vom Hungertod bedrohte Gebirgsjäger abgelehnt. „Unsere Position hinsichtlich der Heere, die in der Sowjetunion eingefallen sind, wurde durch Stalin definiert, dem ist nichts hinzuzufügen. Und wenn eine gewisse Zahl der Gefangenen als Folge der harten Bedingungen tatsächlich stirbt, ist da auch nichts zu sagen.“ Der Tod dieser Menschen, so Togliatti weiter, sei überdies eine Art Lehre in Antifaschismus für ihre Angehörigen.

Staatspräsident Francesco Cossiga, ohnehin auf Rache aus, weil die beiden aus der ehemaligen Kommunistischen Partei hervorgegangenen Formationen Demokratische Linkspartei (PDS) und „Rifondazione comunista“ ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet haben, bat während seiner Rede zur Parlamentsauflösung scheinheilig „die Italiener um Vergebung für Togliatti“.

Das Dokument schien insofern unangreifbar, als es einer der bekanntesten Togliatti-Forscher, Franco Andreucci, nach einer Visite in Moskau publiziert hatte. Doch nun erweist sich, daß der wackere Professor — der seit längerem mit den Kommunisten in Streit lebt — den Brief nicht nur in entstellender Verkürzung publiziert hat: Offenbar haben er und/oder die veröffentlichenden Medien auch noch den Text übermalt und so verfälscht.

Der zunächst nicht publizierte Teil des Briefes relativiert den Vorwurf zumindest in Teilen: „Ich habe es dir schon gesagt: Ich bin wirklich nicht dafür, die Soldaten zu beseitigen, umso weniger, als wir uns ihrer in anderer Weise zum Erreichen bestimmter Ziele bedienen könnten“, steht da. Da die Entdeckung dieser Verkürzung wohl über kurz oder lang zu befürchten war, legten die Brief-Editoren auch gleich vorsichtshalber Hand an: Sie übermalten das im Original stehende Wort „sopprimere“, „beseitigen“ (was auch „sterbenlassen“ heißen kann, also auf keinen Fall „hinrichten“ bedeutet) durch „assassinare“, umbringen. An anderer Stelle, völlig unerfindlich, war der „alte Hegel“ (vecchio Hegel) in einen „göttlichen Hegel“ (divino Hegel) verwandelt worden.

Enthüllt wurde die „Jahrhundertfälschung“ ('La Republica‘) ausgerechnet durch Abgesandte des einstigen Klassenfeindes — Korrespondenten der industrienahen Tagezseitung 'La Stampa‘ (Eigner und Herausgeber: FIAT-Chef Giovanni Agnelli) hatten sich in Moskau das Original zeigen lassen und dann Bauklötze gestaunt. „Es könnte“, so der Historiker und republikanische Senator Giuseppe Galasso, und ganz ähnlich auch die Vatikanzeitung 'L'Osservatore Romano‘ nach Bekanntwerden der Manipulation, „allerdings auch etwas Heilsames in der Sache sein: Daß das Dokument von einem über alle Zweifel erhabenen Wissenschaftler vorgelegt wurde, sollte uns und vielleicht auch die Menschen anderwärts dazu veranlassen, eben doch nicht so leicht zu glauben, was allzu eifrige Vergangenheitsbewältiger oft ohne den vollen Umfang der Dokumente zu kennen, vorschnell an Anschuldigungen über andere zusammenbasteln.“

Bleibt das Rätselraten, was einen weltweit anerkannten Historiker wie Andreucci zu einer derart auch noch plumpen Manipulation veranlaßt hat — zumal eine korrekte Publizierung des Briefes mit der ja unbestritten darin vorhandenen Interventionsverweigerung das Ansehen des Stalinfreundes sowieso weiter geschädigt hätte. Daß Andreuccis mittlerweile großer Haß auf seine Ex-Partei eine Rolle gespielt haben könnte, nehmen viele Kollegen an. Die meisten Kommentatoren sehen die Aktion aber auch im Zusammenhang mit dem eben angelaufenen Wahlkampf, „in dem offenbar alles möglich ist“, so der Nestor der italienischen Politologen, Norberto Bobbio, in einem vernichtenden Artikel. 'Panorama‘ steht über seinen Eigner, den Medienmogul Silvio Berlusconi, den Sozialisten des ehemaligen Ministerpräsidenten Bettino Craxi sehr nahe, 'Il Tempo‘ rechnet zur Hausmacht des christdemokratischen Parteichefs Arnaldo Forlani: beide hoffen kräftig vom Zerfall der ehemaligen Kommunistischen Partei zu profitieren — zu verteilen ist ein Großteil der fast 28 Prozent, die die KPI noch bei den letzten Wahlen einheimste.

Wahrscheinlich aber zielte die Attacke noch weiter: Im Juni muß, drei Monate nach dem Parlament, ein neuer Staatschef gewählt werden. Alle Regierungsparteien haben in ihr Programm die Forderung nach einer Verfassungsreform hineingeschrieben, nach der künftig nicht mehr Senat und Deputiertenkammer, sondern das Volk den Präsidenten wählen soll. So werden derzeit schon die Weichen für künftige Kandidaten gestellt.

Und da hat es offenbar vor kurzem eine Art Betriebsunfall gegeben. Bis Ende vorigen Jahres haben sich ausschließlich der Sozialist Bettino Craxi und der scheidende christdemokratische Ministerpräsident Giulio Andreotti Chancen auf das Amt ausgerechnet.

Doch da ist unversehens eine dritte Person aufgetaucht — die derzeitige Parlamentspräsidentin Nilde Iotti, von der KPI-Nachfolgeorganisation PDS. Nach Meinungsumfragen würde sie derzeit jede Wahl durchs Volk gewinnen; PDS-Chef Achille Occhetto hat sie bereits für alle Fälle zur Kandidatur vorgeschlagen.

Die aber war mehr als zwei Jahrzehnte die engste Vertraute Palmiro Togliattis. Und da käme eine moralische Totaldemontage des (im übrigen bereits früher oft, und zu Recht, unsauberer Methoden geziehenen) 1964 verstorbenen KP-Führers gerade recht.

Wie das Schicksal jedoch so spielt: Daß der PDS aus der Fälschung einen Wahlkampf-Hit machen und sich als verfolgte Unschuld hinstellen kann, hat Parteichef Occhetto selbst verdorben. Als der — verfälschte — Brief bekannt wurde, hat er nicht auf die Einsicht des Originals gewartet, sondern das Schreiben als „agghiacciante“ bezeichnet, als grauenvoll. Und muß nun mit dem Vorwurf leben, auch er habe seinem ehemaligen Parteioberen einen derartigen Zynismus ohne Weiteres zugetraut.