Boudiaf enttäuscht das Volk

Keine politische Öffnung in Algerien/ Der Präsident des „Hohen Staatskomitees“ zielt mit seiner Rede vor allem auf ausländische Geldgeber  ■ Von Oliver Fahrni

Mohammed Boudiaf, der Präsident des „Hohen Staatskomitees“ (HCE) in Algerien, hat dreimal gesprochen, und dreimal hat er die AlgerierInnen enttäuscht. Beim letzten Mal, am Sonntag, schien nun eine Regierungsumbildung und die politische Öffnung hin zu den Islamisten angesagt. Statt dessen aber lieferte „Eisenmaske“ Boudiaf vor der internationalen Presse eine lange Rechtfertigung des Staatsstreiches: „Es ging darum, auf die Gewalt terroristischer Gruppen eine Antwort zu finden... Es ist eine Wohltat für Algerien, daß die Armee die Macht nicht anstrebt... Sie sollten nicht von Repression schreiben. Der Ausnahmezustand gewährleistet die individuellen Freiheiten. Der Beweis: Sie sind hier und können mir Fragen stellen.“

In Boudiafs Rede klingt immer wieder der Ekel über das Regime mit, das sich Algerien aufgeteilt und das Land geplündert hat. „Es wird Zeit“, sagt er, „eine neue Etappe anzugehen. Ich habe aus den Ereignissen eine Botschaft gelesen: Der Hunger nach Wechsel, der Hunger nach Gerechtigkeit.“ Aber er scheint in der Logik des rückkehrenden Freiheitshelden gefangen, der sich seine Rolle anders gedacht, jetzt aber die Junta bis zur bitteren Neige legitimieren muß. Boudiafs früherer Kampfgefährte Ait Ahmed kennt die Versuchung: „Das Regime, unter dem wir leben, war und bleibt eine Maschine, die die ehrlichsten Männer zermalmt.“

Der Rest von Boudiafs Auftritt am Sonntag war eine „Operation Charme“ für die ausländischen Kapitalgeber. „Die befreundeten Länder und die Investoren müssen dem Land aus der Krise helfen... Die Dinge laufen zunehmend besser.“ Frankreich und die USA, denkt Boudiaf, „sollten mehr Verständnis aufbringen“ für die Junta. Und: „Frankreich hat in den letzten Tagen eine korrektere Sicht auf die Ereignisse.“

Der Appell zielt vor allem auf die US-Banken, die vorletzte Woche ihre Beteiligung an einem Algerien- Kredit einfroren, aus „offensichtlich politischen Erwägungen“, wie die regierungsnahe Tageszeitung 'El Moudjahid‘ schrieb. Die US-Administration hält dafür, daß die Krise nur unter Einbezug der Islamisten gelöst werden kann. General Nezzars Junta braucht dringend frisches Geld, um die Zahlungsunfähigkeit für den Fasten- und Feiermonat Ramadan zu vermeiden und das angekündigte Notstandsgeld für die Arbeitslosen zu finanzieren. Zwei Drittel der algerischen Erdöl- und Erdgaserlöse müssen zur Zeit für Zinszahlungen aufgewendet werden, das letzte Drittel deckt nicht einmal die nötigsten Lebensmittelimporte.

Premier Ghozali hat Emissare auf Goodwilltour in alle Hauptstädte der reichen Welt geschickt. Im Genfer Hotel Continental erreichten sie einen ersten Erfolg: Die Opec-Erdölminister stimmten, unter Führung der Saudis, einer Produktionsbeschränkung zu, die den Erdölpreis über 21 Dollar halten soll. In Paris diskutieren die 200 privaten Gläubigerbanken Algeriens um den Crédit Lyonnais einen 1,5 Milliarden-Dollar-Kredit. Sie sind nach „harten Diskussionen“ offenbar zu einem Kompromiß gekommen, der diese Tage abgesegnet wird. Algerien hat vorerst einen Aufschub bis zum 29.Februar erhandelt. Derweil ist die große Auseinandersetzung mit den Islamisten auf der Straße vorerst aufgeschoben. Nezzar hatte am Freitag in Algier eine regelrechte Mausefalle aufgebaut — doch die Islamische Heilsfront blies in letzter Minute den geplanten „Nationalen Marsch“ ab. Ein Regierungssprecher meinte im Off-Gespräch: „Das ist das Ende der FIS.“ 6.000 FIS-Kader, fast alle gewählten FIS-Bürgermeister und FIS-Gemeinderäte, verschwanden in Internierungslagern (s. Kasten). Ärzte gaben am Sonntag an, die Bilanz der Repression sei „weit blutiger als angenommen“.

Ein Chirurg glaubt, daß die Soldaten über 300 Menschen getötet haben. Die meisten Schußverletzungen in seinem Spital in Algier seien schwerwiegend: „Die Polizisten und Soldaten verwenden entweder Dum- Dum-Geschosse oder Munition, die sich im Körper des Opfers aufpflanzt und riesige Wunden reißt. Sie schießen, um zu töten.“ Augenzeugen berichten, Nezzars Mannen hätten auf die Balkone und in Wohnungen gehalten. Bei einem Überfall auf ein Haus der Kasbah schossen Donnerstag nacht die Ordnungskräfte zwei Bazookas ab. Aus den Trümmern wurden sechs verkohlte Leichen geborgen.

In den Volksquartieren herrschte am Wochenende gespannte Ruhe, unterbrochen nur von vereinzelten Schußwechseln und von den Pfannen-Konzerten und den markerschütternden Youyous der Frauen, die eine immer aktivere Rolle im Widerstand gegen die Junta spielen. Unter den Verhafteten befanden sich erstmals islamistische Aktivistinnen, die in den Gruppen der „Afghanen“ mitkämpfen.

Ein abgetauchter FIS-Mann in Algier mochte sich am Montag von den Attacken der Afghanistan-Veteranen und Stadtguerillas nicht distanzieren, meinte dann aber: „Diese Gruppen gehören nicht zur FIS, aber zur islamischen Bewegung. Auch wenn viele direkt oder indirekt von der Sécurité militaire als Provokateure manipuliert werden.“ Der FIS- Mann hat für die Absage der Freitags-Demonstration eine brisante Erkärung: „Es finden seit einigen Tagen regelmäßig Kontakte zwischen Boudiaf und den FIS-Chefs statt. Der Druck der Saudis und Amerikaner wirkt. Die Regierung hofft, in unserem Lager Bündnispartner zu finden. Die Öffnung ist weniger weit weg, als die Repression vermuten läßt.“