Das Spektakel ist die politische Realität

■ Die totale Steuerung durch die Medien läßt den Vorwahlkampf zum Wettkampf verkommen

Die meistbefragten Lebewesen auf diesem Planeten sind die Einwohner von New Hampshire. Denn hier, im eisigen Nordosten Neuenglands, beginnt alle vier Jahre wieder mit den ersten Primaries (Vorwahlen) im Februar der Präsidentschaftswahlkampf. Schon Wochen vorher ziehen hier demokratische, republikanische und unabhängige Kandidaten durch Städte und Dörfer, um sich den rund 800.000 Stimmberechtigten mit ihren Programmen für die Zukunft Amerikas zu empfehlen. In ihrem Gefolge zahllose politische Berater, Meinungsexperten und Reporter, um der Kampagne des Kandidaten den letzten Schliff zu geben, dem Volk die ersten Reaktionen zu entlocken und dem Rest der Nation von dem Spektakel zu berichten. In diesem Bundesstaat zwei Tage vor dem Wahltermin noch einen Bürger zu finden, der noch nicht interviewt worden ist, stellt eine journalistische Meisterleistung dar.

Mit seiner weißen kolonialen Holzarchitektur, seinen strengen Kirchtürmen vor schneeverwehtem Hintergrund fungiert New Hampshire in der politischen Folklore Amerikas als das demokratische Idyll. New Hampshire, das sind Townhall-Meetings, in denen gottesfürchtige Bürger auch über ihre säkulare Zukunft noch selbst bestimmen. „Live free or die“ (Freiheit oder Tod) steht auf den Nummerschildern, und alle vier Jahre liefern die 1,1 Millionen so libertären wie eigensinnigen Bürger New Hampshires den Beweis dafür, daß sie wissen, was für Amerika am besten ist: Seit vierzig Jahren sind am Ende die Kandidaten ins Weiße Haus eingezogen, die hier ihre Vorwahlen gewonnen hatten.

Bei den ersten Primaries geht es also um mehr als nur um die Bestimmung von ein paar hundert Delegierten für die demokratischen und republikanischen Parteitage im Sommer, auf denen dann endgültig über den Kandidaten der jeweiligen Partei abgestimmt wird. In New Hampshire werden schon wichtige Weichen gestellt und Signale gegeben, Favoriten gekürt und Karrieren zerstört. Doch selten zuvor hat der Vorwahlkampf in New Hampshire eine solche Intensität und Eigendynamik entwickelt wie in diesem Jahr. Die tiefe Rezession in dem Neuenglandstaat — 50.000 Arbeitsplätze sind in den letzten drei Jahren verlorengegangen — hat die Bevölkerung zusätzlich politisiert. Ob bei ihren Rundgängen in den Einkaufszenten oder politischen Kundgebungen in Turnhallen: Überall wird den Kandidaten verzweifelt die Frage nach den wirtschaftlichen Rezepten gestellt, die New Hampshire und den Rest Amerikas wieder Wachstum und Arbeitsplätze bringen sollen.

Tägliche Meinungsumfragen und die totale Steuerung der Kampagnen durch die Medien lassen unterdessen diesen Vorwahlkampf zu einer Mischung aus Seifenoper und sportlichem Wettkampf verkommen. Politik wird gänzlich zum Ritual, wenn zur Schau gestellte Fitness und geküßte Babys von den Medien beinahe stündlich als Gradmesser der Popularität gemessen werden. Dies und die Tatsache, daß die Wähler übers Fernsehen Hunderte von Kandidaten-Spots frei Haus geliefert bekommen, sorgten dafür, daß die Bürger von New Hampshire ihre Präferenzen in der letzten Woche vor dem Wahlgang so häufig wechselten wie ihre Unterwäsche. So wurden plötzlich Außenseiter zu Favoriten und Spitzenreiter zu Nachzüglern, ohne daß sich an ihrem Programm substanziell etwas geändert hätte.

Ein Viertel der Wahlberechtigten von New Hampshire wußte so 24 Stunden vor Stimmabgabe noch nicht, für wen sie denn heute votieren sollen. Am Ende werden sich die Wähler von den Kandidaten genau jenes Bild machen, das die Medien aus dem Puzzle ihrer Dauerbefragung entworfen haben. Was das noch mit der Kompetenz der Kandidaten oder gar der Realität der Rezession zu tun hat, kann nur der fragen, der nicht verstanden hat, daß längst das Wahlkampfspektakel selbst zur politischen Realität geworden ist.