Ausverkäufe!

■ Schauspieler des DT lesen Feuilletons und Reportagen aus den zwanziger Jahren

Auf der Potsdamer Straße geht es laut und eng zu. Unter den Passanten sind weniger Flaneure als Menschen, die geschäftlich hier zu tun haben, notiert Siegfried Kracauer 1930. Es herrscht »reger, geradezu weltstädtischer Verkehr«. Kaum jemand hat Zeit, nach rechts und links zu sehen, um etwa in einem Zeitungsverkäufer an der Ecke das Individuum zu erblicken.

Während eines Ausverkaufs zugunsten notleidender Künstler wird das vornehme Kaufhaus des Westens von Kundinnen gestürmt. Alles wird ohne Unterschied gekauft. »Selbst Großmütter werden plötzlich mondän«, bemerkt Fred Hillenbrandt 1926 angesichts der Massenhysterie, deren Ursache ist, daß bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler sich bereitgefunden haben, für ihre arbeitslosen Kollegen als Kaufhauspersonal zu fungieren. Die Verkäuferinnen des KaDeWe dagegen müssen in die Regale klettern, um nicht vom Mob umgerannt zu werden. Seitdem scheint sich in der Stadt nicht viel verändert zu haben. Die Feuilletons und Reportagen, die eigens für eine Matinee-Reihe im Deutschen Theater zusammengetragen wurden, sollten also seit ihrem ersten Erscheinen in den röhrenden Zwanzigern nichts an Schlagkraft eingebüßt haben. Die ihnen innewohnende Wahrheit müßte wie ein Sack Mehl die schwarzen Seelen des heutigen Publikums treffen. »Wenn sie doch dekadent wären«, schreibt Hardy Worm bitter über die Szenegänger von 1921. »Doch sie sind einfach nur dumm, reden über alles und verstehen nichts.«

Die Vielredner von heute stecken gern was ein, wenn es ihnen — also uns — nur richtig hineingesteckt wird. Quer durch das Deutsche Theater, wo seit ehedem Klassiker gepflegt werden, verläuft heute ein Teil der Gesamtberliner Vergnügungspiste. Als feines Haus hilft man hier mit Gemüt und Nettigkeit beim Vortrag — schließlich hatte das Publikum im gut besetzten Kammerspiel gerade gefrühstückt — über allzu rohe Passagen der Texte hinweg. Arbeitslosigkeit und verzweifeltes Abendvergnügen verwandeln sich in ein pittoreskes Elend, das gefahrlos besichtigt werden kann.

Der für die Textauswahl verantwortliche Marketingleiter des Deutschen Theaters Klaus Siebenhaar — ein Westimport — läßt die Schauspieler Nazis, Hunger und Gewalt brav benennen. Zwischen zwei Lehrverpflichtungen an Berliner Hochschulen (für das durch ihn selbst eingeführte Fach Kulturmanagement) und seiner Verwaltungsarbeit am DT hat er genug Zeit gefunden, um auch künstlerisch hervorzutreten.

Die in den ausgewählten Texten deutliche Kritik an Kriechertum und Überheblichkeit trifft niemanden im Saal. Von der tristen Wirklichkeit, der Joseph Roth und Egon Erwin Kisch mit scharfer Ironie und Poesie Herr zu werden versuchen, bleiben nur Stilblüten übrig. Sie schmücken das verschmuddelte Berlin, in dem damals wie heute die gleichen Parvenus den Ton angeben. Klaus Siebenhaar, Tänzer auf vielen Hochzeiten, ist einer von ihnen. Stefan Gerhard

Der letzte Teil der Berlin-Trilogie Goodbye to Berlin: die Metropole unterm Hakenkreuz findet am Sonntag, 15. März, um 11 Uhr im Kammerspiel des Deutschen Theaters (Schumannstraße 13 a) statt.