Schatten im Schtetl

■ Wilde Bilder, expressionistische Schatten: Neues aus der Filmreihe zur Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« im Martin-Gropius-Bau

Bis zum 22. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin- Gropius-Baus von jeweils Mittwoch bis Sonntag um 20 Uhr jüdische Filme aus Polen, der UdSSR, den USA, Österreich, Israel und anderen Ländern. Jeden Mittwoch stellen wir sie hier kurz vor. Einige der Filme dieser Woche laufen auch im Rahmen des Berlinale-Forums. Sie wurden auf den Berlinale-Seiten vom 14. Februar besprochen.

Die Woche beginnt mit Michal Waszynskis düsterer Version des Dybbuk (Polen, 1937), in der zwei Jeshive-Studenten sich schwören, ihre Kinder miteinander zu verheiraten. In der chassidischen Tradition waren vorausbestimmte Ehen ein eisernes Gebot göttlicher Vorsehung; wer sich nicht fügte, dem drohte schreckliche Vergeltung. Das Drama des Dybbuk nimmt seinen Lauf, als in der stürmischen Nacht der Geburt der Vater des Jungen vom tosenden Meer geschluckt wird und die Mutter des Mädchens dem Kindbettfieber erliegt. Da wird der Schwur vergessen, und die schöne Lea soll, nach dem Tod ihres Geliebten, an einen anderen verheiratet werden. Lea aber huscht ruhelos zwischen den expressionistischen Schatten der schiefen Häuserwände und den im Dunkeln schimmernden Grabsteinen des Schtetl hin und her, bis sie schließlich ganz von ihrem heimlichen Geliebten besessen ist. Ein an Munch einerseits und an Murnau andererseits erinnernder Tanz der Braut in Weiß mit dem verschleierten, grinsenden Tod ist der filmische und dramatische Höhepunkt dieses Schauerstücks.

Ein ähnlicher Topos liegt A Vilna Legend (Polen 1924, USA 1933) zugrunde, der am Donnerstag abend zu sehen ist. Hier aber sind die »wilden Bilder« (so nannte sie ein jüdischer Kritiker aus Angst vor dem Blick der Katholiken Polens auf die ungezügelte Darstellung jüdischer Lebenswelten) durch eine Rahmenerzählung gezähmt, die in einer Kaschemme unter vier beschwipsten bärtigen Herren spielt. Wieder haben sich zwei werdende Väter geschworen, ihre Kinder einander zu vermählen, und wieder droht der Schwur gebrochen zu werden. Der Vater des Jungen wird reich und schickt seinen Sohn auf eine Jeshive nach Wilna, wo der aber ins Sündenbabel abtaucht und sich die Schläfenlocken abschneidet. Das Mädchen und ihre Mutter verarmen derweil. Beide sollen über einen windigen schadkhn (ein traditioneller Heiratsvermittler) an solvente Partner verschachert werden. Da aber taucht, ein wahrer deus ex machina, der Prophet Elias in Gestalt eines Bettlers, Holzfällers, Schäfers und reichen Bürgers auf und verhilft den Armen zu einem besseren Leben und den Liebenden zu ihrem Glück.

Die Figur des Elias markiert die Schnittstelle zwischen den Schtetl- Sozialisten und den Orthodoxen. Obwohl der Tradition der vorbestimmten Heirat eine Absage erteilt wird, huldigt der Film jedoch der kabbalistischen Mystik, speziell in den wunderschönen Außenaufnahmen von Marktplätzen, Wäldern und Alleen, in denen Elias in biblischem Gewand auftritt oder die Träume der Liebenden als zarte Schimmer auf Zelluloid aufscheinen.

Ein hierzulande wenig bekanntes Thema wird in dem Dokumentarfilm Weapons of the Spirit (USA/Frankreich, 1986) von Pierre Sauvage vorgestellt. Gezeigt wird, wie 5.000 Bürger des französischen Dorfes La Chambon südöstlich von Paris 5.000 Juden über die Nazizeit retteten. Die größtenteils bäuerlichen Dorfbewohner, deren Vorfahren als Protestanten im katholischen Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts ebenfalls blutigen Verfolgungen ausgesetzt waren, geben höchst unprätentiöse Erklärungen darüber ab, warum sie Kopf und Kragen riskierten. »Na ja, die brauchten Hilfe«, sagt eine Frau, indem sie den Interviewer etwas verwundert anschaut, »ist doch wohl normal, oder?« Wie sie gefälschte Pässe versteckten, vorsichtig gemeinsam Gottesdienste abhielten oder sich mit pubertierenden jüdischen Adoleszenten zankten, das ist auf jeden Fall einen Kinobesuch am Samstag um 17 Uhr wert.

Wer durch die Ausstellung gelaufen ist und die jüdischen Lebenswelten in musealer Schönheit erstarrt fand, der sei auf Henryk M. Broders Soll Sein (1989) verwiesen, ein lebendiges, liebevolles Filmporträt des Jiddischen, zusammengestellt aus Interviews mit Sängern, Dichtern, Sozialisten, Orthodoxen und Theaterleuten in Israel (Sonntag, 17 Uhr). Mariam Niroumand