Mir macht Martellis Wilder Westen Angst

■ Der Aufruf ist eine Bankrotterklärung des Staates

Unser Justizminister rechtfertigt den Rückgriff auf bewaffnete Notwehr der einzelnen Bürger; gleichzeitig hören wir aus dem Radio die Bitternis von Angehörigen von Entführungsopfern über die Ineffizienz der Fahndungsapparate. Beide Male entsteht der Eindruck einer Bankrotterklärung. Der Staat ist nicht mehr imstande, die Grundfunktion der Garantie öffentlicher Sicherheit auszuüben.

Unklar, wie ausgerechnet der verfassungsmäßig für die Justiz zuständige Minister angesichts der Angst, des Mißtrauens, der Ohnmachtsgefühle des Bürgers dazu kommt, kühl daran zu erinnern, daß es doch auch das „Recht der erlaubten Notwehr“ gibt. Selbstbedienung als auch auf die Justiz ausdehnbares Prinzip: eine schlimme Feststellung, vor allem wenn man sie gegen die kulturelle Entwicklung unseres Landes hält. Die war jahrhundertelang durch tiefgreifende Reflexionen von Juristen, Philosophen, Literaten gekennzeichnet und hat zum fortschreitenden Aufbau eines auf Achtung des menschlichen Lebens gründenden Staatsmodells geführt. Dieser Staat hat die Lösung von Konflikten auf unparteiische Organe übertragen, hat sich, seit dem Krieg, auch aller offenen oder verdeckten antidemokratischen Angriffe erwehrt und sich selbst in schwierigsten Momenten der Todesstrafe widersetzt. Italien verdient nicht, ins Faustrecht zurückgeworfen zu werden.

Die Justiz durchläuft derzeit schwierige Zeiten, international wie national. Die Versuchung zur Selbstverteidigung ist dort groß, wo der Staat seine Aufgaben nicht — noch nicht oder nicht mehr — wahrnimmt. Sie wird verstärkt durch die Vertrauenskrise zwischen dem Bürger und der Administration. Das reicht vom stillen oder ausdrücklichen Einverständnis zwischen Opfer und Täter, die Behörden nicht einzuschalten — etwa bei Entführungen — bis zum Verschweigen illegaler Taten aufgrund des Politikerfilzes.

Wenn nun die höchste Autorität der Rechtsverwaltung den Wilden Westen legitimiert — was sagen wir dann den Strafverfolgern, die mutig den Rechtsstaat auch dort durchzusetzen versuchen, wo der Staat nicht mithilft oder gar stört? Werden sie nicht denken müssen, daß alle Mühe nicht lohnt? Nein, Minister Martelli: Was wir brauchen, ist ein Kampf für eine freie, unabhängige Justiz, die uns wieder glauben läßt, daß ein Angriff auf einen Menschen gleichzeitig ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft ist. Rita dalla Chiesa

Die Autorin, Tochter des 1962 ermordeten Antimafiapräfekten, ist Stadtverordnete in Kalabrien und Mitarbeiterin von 'L'Unità‘