Die Arme des Polypen greifen nach Moskau

Nationale und internationale Banden, die Reste der aufgelösten Kommunistischen Partei und der KGB organisieren einen gigantischen Geldhandel — und der Staat macht mit/ Trotz offizieller Verbote Geldversteigerungen an der russischen Börse  ■ Aus Moskau Enrico Franceschini

Im tagtäglichen Wirbel von Ankündigungen, Gesetzen und Programmen, der den Übergang Rußlands vom Sozialismus zum Kapitalismus kennzeichnet, ist eine kurze Meldung der 'Istwestija‘ vom 23. Januar 1992 fast untergegangen: Danach hat der Präsident der Zentralbank, Georgij Mathjukin, dem Parlament einen Bericht übergeben, der sich mit einer Geldversteigerung in der Interrussischen Börsenbank vom 17. Januar 1992 beschäftigt. An diesem Tag hat die Bank 117 Millionen Dollar gegen 14 Milliarden Rubel eingetauscht. Die Käufer und Verkäufer blieben dabei völlig anonym. Mathjukin erklärt in seinem Report die Aktion für „illegal“ und kündigte das Verbot künftiger weiterer Versteigerungen oder ähnlicher Transaktionen an. Bisher ist nicht bekannt, ob die Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Ermittlungsverfahren eingeleitet hat; doch das Urteil des Notenbankpräsidenten zeigt, daß die Wirtschaftsreform in Rußland mit kriminellen Erscheinungen verbunden ist, über deren Ausmaß es bisher noch kaum Klarheit gibt.

Für Boris Jelzin und seine Regierung ist der Übergang zum Kapitalismus vorrangig ein politisches und ökonomisches Ziel, um den Markt zu demokratisieren und, auf längere Sicht, die Lebensbedingungen von 150 Millionen Menschen in der größten und reichsten Republik der ehemaligen UdSSR zu verbessern. Doch unterhalb dieser Ebene existiert ein umfangreiches Konglomerat von Einrichtungen, Societäten, öffentlichen und verdeckten Organisationen, für die der qualitative Sprung in den Kapitalismus nichts anderes ist als ein Riesengeschäft, eine einmalige Gelegenheit, sich zu bereichern.

Die Greifarme dieses Polypen werden geformt einerseits von der nationalen Mafia und ihren weitverzweigten Gruppen: Der Schwarzmarkt umfaßt in Rußland nach den „optimistischsten“ Schätzungen etwa 70 Milliarden Rubel, was dem Gegenwert von einem Achtel des gesamtrussischen Jahreskonsums entspricht; nach anderen Hochrechnungen ist bereits ein Drittel bis die Hälfte der gesamten Wirtschaft von ihm dominiert. Das dort gewonnene Geld wird unter anderem für Spekulationen mit Rubeln benutzt. Eine große Rolle spielt dabei auch die zwar aufgelöste, aber keineswegs verschwundene Kommunistische Partei; dazu kommen Waffenhändler und Geldwäscher aus dem In- und Ausland. Bei den erwähnten Rubelspekulationen spielen die Ausländer die eindeutig dominierende Rolle.

Die erwähnte Geldversteigerung ist ein plastisches Beispiel, wie groß die Gefahr ist, daß da bald ein Rußland in den Greifarmen von Spekulanten, kriminellen Investoren und Ausbeutern mit internationalen Kapitalien landet. Seit einigen Monaten gab es in Moskau bereits Hinweise, daß ausländische Geschäftsleute enorme Summen von Rubeln zusammenscharren, um sie später einzusetzen, wenn der Ausverkauf staatlichen Besitztums beginnen würde. Versteigerungen sind dabei eine der Methoden ausländischer Finanzgruppen, sich mit einem extrem niedrigen Umtauschkurs in den Besitz großer Rubelmengen zu setzen — mitunter gibt es 120 Rubel für einen Dollar. Der Zentralbankpräsident hat angekündigt, daß man in Bälde eine Wechselkurssteuer für ausländische Käufer einführen wolle, etwa 10 Rubel pro Dollar, und daß künftighin ausländische Investoren vom Staat angebotene Objekte nur mit Rubel kaufen dürfen, die zum staatlich festgesetzten Umtauschwert erworben wurden. Doch paradoxerweise ist auch die Zentralbank selbst in diesen schwunghaften Handel verwickelt, den der Präsident als unkontrolliert und illegal bezeichnet: Nach Indiskretionen aus dem Banker-Ambiente war es gerade die Zentralbank selbst, die Milliarden von Rubeln verkauft hat, um mit Hilfe der eingetauschten Dollar einen Fonds zu bilden, der dann den Rubel auf den Weltmärkten stabilisieren soll, sobald die russische Währung frei konvertierbar wird.

Unter solchen Umständen wird das Ausmaß jenes Skandals deutlicher, der im vorigen Jahr die russische Regierung erschüttert hat, als bekannt wurde, daß man auf geheimen Wegen 140 Milliarden Rubel in 10 Milliarden Dollar umgetauscht hatte. Die Dollars stammten von einer Gruppe kleiner ausländischer Finanzgesellschaften mit Sitz in Zürich, Genf, Wien, London und New York, vermittelt war die Geschichte durch einige russische Dunkelmänner aus privaten Joint-ventures. Gekauft hatte die Dollars — die russische Regierung. Der „Garant“ dieser Operation, Vizeminister Gennadij Filschin, mußte zurücktreten. Daß der Deal aufflog, war jedoch nicht kriminalpolizeilicher Kleinarbeit zu verdanken — der KGB enthüllte die Geschichte damals, um ein „Komplott westlicher Banken“ zu denunzieren und die russische Regierung der Komplizenschaft zu zeihen.

Die damals nicht identifizierten Hintermänner der Aktion sind möglicherweise aber schon wieder zugange — erst kürzlich haben sie bei einer weiteren Versteigerung 30 Milliarden Rubel eingestrichen — wieder in der Interrussischen Börse.

Enrico Franceschini ist Korrespondent der 'Repubblica‘ in Moskau