Böser Märchenonkel

■ Frank Castorf inszeniert „Hermes in der Stadt“

Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird!“ An diesem Schlußsatz kommt kein Kritiker vorbei. Er steht da so, er sei uns gegeben, wird dahergesprochen in guter alter dialektischer Tradition, als stamme er von Brecht und nicht von Lothar Trolle. Aber Trolle hat viel von Brecht (und wieder ganz wenig), denn er hat eigentlich nicht nur einen, sondern mehrere Schlußsätze geschrieben, der Art und des Sinns: „Wo Aas ist, sammeln sich die Geier!“ oder „Besser, andere balbieren, als selbst balbiert zu werden.“ Die Sätze stehen zur Disposition — laut szenischer Anweisung malen die Jugendlichen solche und ähnliche Parolen auf Hauswände, Sprüche eben, die mit dem Leben abgeschlossen haben. Frank Castorf greift sich ausgerechnet diesen. Klingt nach.

Lothar Trolles Text ist Montage, eine wahnwitzige Montage aus literarischen und literaturwissenschaftlichen Texten sowie Prozeßberichten der DDR-Zeitung 'Die Wochenpost‘. Hermes in der Stadt entstand 1988, kurz vor der Wende. Die Fälle sind authentisch, die Poesie ist authentisch, und beides ist bis zur Unmerklichkeit miteinander verzahnt. Am eindrucksvollsten ist darum der mittlere Teil des Abends, da Lothar Trolle in dem Schauspieler Dieter Mann einen kongenialen Agenten seiner Literatur- und Leichenschändung gefunden hat. Mann, in dunklem Regenmantel und mit weißem Hut, agiert wie ein Erzähler, der mindestens zwei Erzählstränge auf einmal verfolgt, die man noch gutwillig als inneren und äußeren Dialog klassifizieren könnte. Ein Mann, der unterwegs ist, dabei laut und gnadenlos über die Regelmäßigkeit des Blankvers und die Unmöglichkeit des perfekten Alexandriners sinniert, während er von Untat zu Untat schreitet. Es ist erstaunlich, wie leicht und selbstverständlich sich dieser mehrstimmige Monolog personifizieren und in Handlung umsetzen läßt, jedenfalls ist es Castorf scheinbar mühelos gelungen; ein Monolog, der eigentlich ein Dialog ist, in den sich immer weitere Stimmen einmischen und so weiter, bis er zu einem Chor anschwillt, bei dem immer eine andere Stimme die Führung übernimmt und wieder abgibt.

Und dann nimmt der Erzähler Mann den Faden wieder auf. Zieht seinen Hut, setzt sich an die Rampe und fragt: „Taschendieb, sei ehrlich, was weißt du eigentlich vom Blankvers?“ Leis ironisch setzt er seine philologisch sehr detaillierten Beobachtungen an deutschen Dichtern fort: der Ortswechsel der Zäsur beschäftigt ihn weit mehr als das Mädchen, das er im Wald überfällt und vergewaltigt („Und auch solche Ruhe kann von einem Alexandriner ausgehen!“). Ausschließlich mit der Hand deutet er wie ein Kriminalbeamter die Vergewaltigung an, ein stummes Verbrechen. Er hört sich reden (und sie nicht schreien), er sieht die anderen zu ihm reden und sieht sich mit den anderen reden, und so wird der Taschendieb ein mehrfacher Mörder, immer die gleiche Distanz des Redners zum Täter wahrend.

Reden macht überlegen, scheinbar, und die Literatur ist erhaben, scheinbar, bloß hört ihm und ihr keiner zu. Solange der Mann redet, mordet er weiter, bis er verhaftet wird und denkt: „Und wenn sie mich schon haben,/ warum fragen sie mich nicht,/ warum mache ich das alles, warum kann ich nicht anders, als der sein, der ich bin?“

Der Freund der Distichons und Jamben begegnet der eher schreib- und leseunfähigen Jugend in der Kneipe, vorm Fernseher. Der Regisseur erlaubt sich einen Gag: Die 19-Uhr-Nachrichten werden eingespielt, brandaktuell, und tatsächlich haben die Zuschauer trotz Dieter Manns Sprachgewalt gegen die visuelle Konkurrenz zu kämpfen. Claudia Geisler (da das Stück keine festumrissenen Figuren oder Rollen hat, bleiben nur die Schauspielernamen) stoppt per Fernsehbedienung das Bild und verfährt ebenso — Vor- und Rücklauf — mit der Erzählerstimme. Eine Hausfrau mit Einkaufstasche, Gudrun Ritter, kommt dem Erzähler in die Quere und schmeißt ihm Kleists Krug zu Füßen. Der geht entzwei, und die autonome Stimme der schönen Literatur ist dahin.

Frank Castorf hat den scheinbar kühlen, aber innerlich hitzigen Text mit ruhiger Hand inszeniert. Auch die Jugendlichen erzählen — Märchen, böse Märchen. Die Wirklichkeit ist unfaßbar, ein Medienbild, ein Zerrbild. Manchmal singen sie auch: zu Rockmusik der 70er, oder Juan Carlos Carvajal singt ihnen was vor und lädt die Damen zum Tango ein. Die Dinge sind simpel. Nichts ist tödlicher als Langeweile.

Und so treiben sie tödliche Spiele. Bringen einen Jungen dazu, seinen Eltern mit einer Schlafmittelvergiftung einen tödlichen Schreck einzujagen. Und die Alten? Eine Frau nimmt das Kind einer anderen im Kinderwagen mit. Kaum zu unterscheiden, ob Bärbel Bolle die Geschichte schluchzend oder lachend erzählt. Margit Bendokat pustet Benjamin Kradolfer den Zigarettenrauch solange ins Gesicht, bis er kaum mehr zu sprechen vermag. Die Geschichten, die sie einander erzählen, nehmen sie sich gegenseitig nicht ab. Dabei husten oder weinen sie sich die Seele aus dem Leib.

Greuelmärchen aus der Großstadt. Lothar Trolle bemüht die Mythologie: literarische Mythen, antike und moderne Mythen, Großstadtmythen: Hermes in der Stadt. Castorf hält sich an die Großstadterfahrungen, oder vielmehr lotet er den Zustand aus, in dem der Zugang zu den eigenen Erfahrungen versperrt ist; unmögliche Kommunikation. Dafür gibt es ein aus der Mode gekommenes Wort: Entfremdung. Im Theater redet man von Verfremdung, das tat schon Brecht.

Auch Castorf verfremdet, überhöht nicht. Und nur einmal erlaubt er sich an diesem Abend mit dem bösen Märchenonkel, der überall in dieser Welt spielen könnte, eine satirische Einlage mit mehreren Versatzstücken aus der DDR-Geschichte, ein groteskes Zwischenspiel. Die Drehbühne mit den abstrahierten Häuserfluchten von Peter Schubert dreht sich um sich selbst, Bärbel Bolle irrt mit einem Schild „Wir sind das Volk“ durch die leeren Bühnensegmente. Wo wird das Bild zum Stehen kommen? Das umgedrehte Schild wird zum Besen, der Geschichte auskehrt, und der kleine Hermes kommt als Vopo mit Querflöte auf die Erde herunter.

Weiß man's, deutsche Verse klingen in Zukunft vielleicht so.Sabine Seifert

Lothar Trolle: Hermes in der Stadt. Regie: Frank Castorf. Bühne: Peter Schubert. Mit Margit Bendokat, Benjamin Kradolfer, Gudrun Ritter, Bärbel Bolle, Franziska Hayner, Claudia Geisler, Dieter Mann, Uwe Dag Berlin und Juan Carlos Carvajal. Deutsches Theater Berlin. Nächste Vorstellungen: 26.Februar und 12.März.