Die Widerspenstigen sind gezähmt

■ Isabelle und Paul Duchesnay erreichten mit einer vergleichsweise artigen Kür nur den zweiten Platz hinter dem zauberhaften Paar aus Moskau, Marina Klimowa und Sergej Ponomarenko

Berlin (taz) — Die Franzosen lieben ihr Land und ihre Leute. So sehr, daß sie nicht einmal Schwarzmarktpreise von 1.500 Mark abhalten konnten, am Montag abend ins Eisstadion zu drängen, um die ihren anzufeuern: Paul und Isabelle Duchesnay, die avantgardistischen Paradiesvögel des Eistanzes. Sie allein, so hatte die Grande Nation einstimmig beschlossen, sollten in Albertville Gold bekommen.

Doch die Franzosen haben neben ihrem Trikolore-Tick eine zweite Schwäche: die Liebe zur Schönheit, Dramatik und Leidenschaft. Und so geschah, was kein Franzose zuvor für möglich gehalten hätte: die 9.000 Zuschauer, zum Großteil Duchesnay-Fans, erlagen dem Zauber der Konkurrenz. Denn die Olympiasieger Marina Klimowa und Sergej Ponomarenko zeigten nicht nur Bolschoi-Ballett on Ice. In wunderbaren Bildern offenbarten sie zur Musik von Bach ein vollkommenes Liebesglück. Mit offenem Wallehaar schmachtete Marina ihren Angetrauten an, warf sich ihm zu Füßen, um sich im nächsten Moment unter feurigen Blicken und wilden Drehungen an ihm hochzuziehen. Das Paar aus Moskau war eins mit sich und der Musik. So intensiv, so geradezu intim war der Liebestanz der Moskauer, daß sich die Zuschauer fast wie Voyeure vorkommen durften.

Das Auditorium hielt den Atem an, als Marina zum großen Finale verzweifelt und unter Schmerzen ihren Sergej von sich wegstieß. Doch Sergej kehrte um, warf sich auf den Boden und in die Arme seiner Liebsten. Eng umschlungen lagen die beiden auf dem Eis und küßten sich leidenschaftlich.

„Spätestens hier war das Herz des gemeinhin sentimentalen Franzosen gebrochen, die letzte Gauloise fiel aus dem willenlosen Mundwinkel. Sekundenlang herrschte ergriffene Stille, dann brach der Applaus los. Frenetisch feierten die Franzosen das Liebespaar, nur ein einziger hatte sich offenbar die Augen zugehalten und blieb deshalb renitent: der französische Preisrichter. Er allein entsann sich seines nationalen Auftrags — Gold für die Duchesnays — und zog die 5,5, wo alle anderen zur 5,8 oder 5,9 griffen.

Doch sein mutiges Einschreiten half nichts mehr: Nach dem Sieg in der Pflicht und im Originaltanz gewannen Klimowa/Ponomarenko auch die Kür und damit uneinholbar die Goldmedaille.

So hatten die nachfolgenden Duchesnays bereits verloren, bevor sie angefangen hatten. Mit verkniffenem Gesicht und restlos enttäuscht betraten die Geschwister das Eis. Da half weder das Anfeuern des Publikums noch die Aussicht auf Silber: Zu groß war der Frust. Der erkälteten Isabelle Duchesnay fehlte die gewohnte Spannung. Selbst die spektakulären Figuren, etwa als sie zur Abwechslung den Bruder herumwarf oder er einen Überschlag hinlegte, verhalfen der getanzten West Side Story bei weitem nicht die Faszination früherer Übungen. Heulend schmiß sich die ehrgeizige Isabelle ihrem Bruder an den Hals, und es fehlte nicht viel, dann hätte sie vor Wut ins Eis gebissen.

Denn die größte Schmach stand noch bevor: Auf dem Siegerpodest mußten sie die scheinheiligen Liebkosungen des Moskauer Ehepaars über sich ergehen lassen, das auch außerhalb ein eisiges Verhältnis zu den Duchesnays pflegt. Klimowa: „Die Duchesnays sind künstlich in den Himmel gehoben, die sind nur von den Medien gemacht.“

So hatte die Olympiasiegerin nur ein schmales Lächeln für die Erklärung der Franzosen übrig, die den engen Spielraum der Regeln für den Mißerfolg verantwortlich machten. Paul: „Die Regeln gehören in den Müllschlucker.“ Sergej Ponomarenko lenkte ein: „Viele Regeln sind wirklich ziemlich dumm.“ Doch dann versetzte Marina Klimowa den Duchesnays einen hinterhältigen Stoß: „So ein Programm kann man halt nur tanzen, wenn man verliebt ist.“ Und das seien eben nur sie: „Dreimal flüsterte mir Sergej ins Ohr: Ich liebe dich.“ miß