INTERVIEW
: „Die Archive dürfen nicht geschlossen werden“

■ Wolfgang Ullmann, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90, zu Stasi-Jagd und Akten-Hysterie

taz: Herr Ullmann, Politiker, Kirchenmänner und Historiker sprechen sechs Wochen nach der Öffnung der Stasi-Archive von einer Hexenjagd und Stasi-Hysterie. Täglich werden neue Inoffizielle Mitarbeiter bekannt. Wer deswegen jetzt ein Ende der Hysterie einklagt, fordert indirekt damit, die Akten wieder zu schließen.

Wolfgang Ullmann: Nein, keineswegs. Die Archive dürfen nicht geschlossen werden, wir müssen aber alle wieder zu etwas mehr Vernunft kommen. Im Moment erleben wir, daß die Hochkonjunktur des Enthüllungsjournalismus auf uns losgelassen wird, aber das vergeht wieder. Sie bringt manches Unerfreuliche, das darf man auch ruhig kritisieren, es ist aber auch deutlich, daß alte politische und ideologische Konzeptionen sich jetzt des Stasi-Argumentes bedienen. Nehmen sie beispielsweise den letzten Artikel des 'Spiegel‘ über Ministerpräsident Stolpe. Er ist deutlich von dem altbekannten Muster des Antiklerikalismus gekennzeichnet. Herr Stolpe soll als Repräsentant einer Kirche vorgeführt werden, von der man den Eindruck erwecken möchte, so weit her war es mit ihr auch nicht. Das sind altbekannte Töne.

Am Beispiel Stolpes wird aber auch deutlich, wie umstritten die Glaubwürdigkeit der Stasi-Akten ist. Stolpe hat — wie der PDS-Chef Gregor Gysi auch — eingeräumt, in den Unterlagen als Inoffizieller Mitarbeiter geführt worden zu sein. Beide beteuern aber, davon nichts gewußt zu haben. Kann man den Akten noch trauen?

Natürlich kann man das. Man muß aber auch Stolpe und Gysi trauen. Hier steht Aussage gegen Aussage. Der Sachverhalt muß geprüft werden, die Aktenkundigen müssen ihre Meinung sagen. Natürlich darf es nicht sein, daß der Aktenführung ein höherer Aussagewert eingeräumt wird als den Aussagen eines Betroffenen, der sagt: „Ich bin kein IM gewesen.“ Wer das nicht glauben will, muß das Gegenteil beweisen können.

Wir beobachten aber auch, daß die Aussagen ehemaliger Stasi-Mitarbeiter in der Regel dann zurückgewiesen werden, wenn sie belasten. Entlasten sie, werden sie willkommen angenommen.

Das ist ein ganz unmögliches Verfahren. Hier muß die Kritik an den Verantwortlichen laut werden. Es hätte nicht dahin kommen dürfen, daß die Akten geöffnet werden und dann die autoritativen Ausleger der Unterlagen diejenigen sind, die Führungsoffiziere waren oder operative Vorgänge eingeleitet haben. Es ist bedenklich, wenn manche Medien diese Leute zu Kronzeugen erheben. Ich appelliere daher an alle Medien, daß sie bei allen Kontakten mit Inoffiziellen oder anderen, die attraktive Stories anzubieten haben, den gesellschaftlichen Hintergrund nie aus den Augen verlieren. Das hohe Gut der Pressefreiheit sollte zur Aufklärung und zur besseren Kommunikation, und nicht zur Eskalation der vorhandenen Gegensätze verwendet werden.

Der PDS-Abgeordnete Gerhard Riege hat, nachdem seine Stasi-Kontakte in den fünfziger Jahren bekannt wurden, Selbstmord begangen.

Der Freitod Rieges hat mich sehr erschüttert. Mir war Herr Riege ein sehr angenehmer Kollege, den ich noch vom Verfassungsausschuß der Volkskammer her kenne. Ich habe überhaupt keine Zweifel daran, daß es Herrn Riege mit seinem Engagement für eine neue Verfassung und eine Demokratisierung der DDR sehr ernst war. Er hat eine politische Position vertreten, die ich nicht teile, aber respektiere. Ich finde es schlimm, daß seine Fassungskraft zusammengebrochen ist. Das hängt aber, soweit ich weiß, nicht allein mit den Stasi-Akten zusammen. Ich habe gelesen, daß ein übler telefonischer Angriff wohl der Auslöser für seinen schrecklichen Entschluß gewesen ist.

Die Bundestagspräsidentin hat jüngst beklagt, es gebe ein Klima, das Beschuldigten oder Schuldigen keine faire Chance für einen Neuanfang läßt. Kann es eine solche Chance überhaupt geben, solange kleine IMs gejagt werden, die hinter ihnen stehenden Verantwortlichen aber ungestraft davonkommen?

Ihre Frage war sicherlich nicht die Voraussetzung für die Forderung, die Frau Süssmuth mit Recht eingeklagt hat. Es sind aber die Hintergründe, die mich und andere veranlaßt haben, ein gesellschaftliches Forum zu schaffen, mit dem eine ganz andere Art und Weise des Umgangs mit dieser belastenden Vergangenheit geschaffen werden soll.

Wie lange wird dieser Prozeß der Aufarbeitung andauern?

Das hängt in erster Linie vom Verhalten der Beteiligten ab. Im Augenblick verhalten sich allerdings alle Beteiligten unwürdig. Es wird nicht gesehen, wo die Hauptverantwortlichkeiten und damit das jeweilige Ausmaß von Schuld liegen. Das ist völlig außer Proportion geraten. Die Tatsache, daß die Nennung als Inoffizieller Mitarbeiter zur sofortigen gesellschaftlichen Ächtung führt, ohne dabei, wie Fall von Herrn Riege, die ganz persönlichen Umstände zu berücksichtigen, das nenne ich unwürdig. Interview: Wolfgang Gast