Alt-Sprengstoff bringt Länder auf Trab

Länder wollen Bundesregierung verdonnern, die Sanierung der Rüstungsaltlasten zu finanzieren/ Wohnhäuser auf giftigen Überresten der deutschen Kriegsproduktion/ Industrie kommt billig davon  ■ Von Hannes Koch

Berlin (taz) — Als die Engelhardts in ihr neues Reihenhaus einzogen, dachten sie einen guten Griff getan zu haben. Ein Jahr später schon wußten sie: Sie hatten sich getäuscht. Gutachter stellten fest, daß die Familie mit ihren drei Kindern auf einer giftigen Altlast lebt. Was heute romantisch „Wohnpark am See“ heißt, war nämlich bis 1945 der Standort einer Rüstungsfabrik. In Empelde, einem kleinen Ort vor den Toren Hannovers, wurden Geschosse für Hitlers Wehrmacht hergestellt.

Das Erdreich unter den Wohnzimmern der 2.000 Wohnpark-BewohnerInnen ist mit chlorierten Kohlenwasserstoffen und Schwermetallen durchtränkt. Das Häuschen im Grünen wurde zum Alptraum im Grünen: Die Konzentration der Gifte liegt vielerorts jenseits aller Grenzwerte. Ein Teil des Teichufers inmitten des Wohnparks ist eingezäunt, in manchen Gärten dürfen die Kinder nicht mehr spielen, und Gemüse aus eigener Zucht ist sowieso tabu.

Schon beim Ausschachten für die Wohnhäuser waren Bauarbeiter Anfang der 80er Jahre auf farbige Erde gestoßen. Manchmal stank es auch aus der Baugrube. Hin und wieder wurde eine Lkw-Fuhre Erde auf die Mülldeponie gefahren — eine Indiz dafür, daß die im Boden lauernde Gefahr bekannt war. Doch die Gemeinde zog den Bebauungsplan durch. Inzwischen wird gemunkelt, daß die damalige Eigentümerin des Baulandes, eine Abschreibungsgesellschaft, 750.000 Mark an die Gemeinde überwies und sich dadurch von der Sanierung freikaufte.

Den Wohnpark Empelde zu sanieren wird Millionen kosten. Doch wer bezahlt, steht in den Sternen. An den Verursacher, die Sprengstoff-Firma Dynamit Nobel, kommt man rechtlich schwer heran. Und weder der Bund noch die Länder wollen für die Kosten der kriegerischen Vergangenheit aufkommen.

„Die Bundesregierung lehnt sich bei der Sanierung von Privatflächen zurück“, beschwert sich Altlastenexperte Hans-Jürgen Rapsch vom niedersächsischen Umweltministerium. Die Sanierung sämtlicher Rüstungsaltlasten im Land übersteige aber bei weitem die finanziellen Möglichkeiten seines Bundeslandes.

Weil es allen Bundesländern geht wie Niedersachsen, haben sich die Regierenden von München bis Kiel an einen Tisch gesetzt und beschlossen: Der Bund soll zahlen. Hannover hat inzwischen den gemeinsamen Gesetzentwurf erarbeitet.

In Bonn ist man natürlich über den Vorstoß der Länder alles andere als begeistert: „Zwei Herzen schlagen in meiner Brust“, meint Dietrich Ruchay, der zuständige Abteilungsleiter im Bonner Umweltministerium. Natürlich sei die Sanierung notwendig, „aber der Bund hat kein Interesse, alles alleine zu bezahlen“.

Der Griff in die Bundeskasse war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Länder verständigen konnten. In ihrem ursprünglichen Entwurf wollten die hannoverschen Altlasten-SpezialistInnen vorrangig die Rüstungsindustrie zur Kasse bitten. Doch dagegen sperrte sich unter anderem Hessen. 1990 hatte dort nämlich der einstige CDU-Umweltminister Weimar mit der Rüstungsindustrie gekungelt. Die Industrieverwaltungs-Gesellschaft (IVG), mehrheitlich in Bundesbesitz und Rechtsnachfolgerin vieler Kriegsfabriken, überwies die im Vergleich zu den Sanierungskosten lächerliche Summe von 25 Millionen Mark an die hessische Landeskasse und kaufte sich damit von der Haftung für ihre Rüstungsaltlasten frei. Die rot- grünen Hessen haben deshalb wenig Lust, sich auf einen Rechtsstreit mit der Industrie einzulassen.

Selbst wenn die gemeinsame Gesetzesinitiative Bundesrat und Bundestag passieren sollte und die Bundesregierung zur Zahlung der Altlasten verdonnert, werden die Sanierungen noch Jahre brauchen. Die meisten Bundesländern haben heute nämlich noch nicht einmal einen Überblick über ihre Altlasten. Nordrhein-Westfalen hat bislang 600 „Verdachtsflächen“ ausgemacht. Hessen weiß mit Sicherheit nur von zwei Standorten, an denen im Auftrag des Deutschen Reiches TNT produziert wurde. 700 Flächen müssen erst noch untersucht werden.

Nur in Niedersachsen gibt es bislang eine einigermaßen vollständige Bestandsaufnahme der giftigen Überreste deutscher Kriege. 137 Standorte sind registriert. Hinzu kommen noch 86 Verdachtsflächen. Unter den gefährlichsten Standorten ist der sogenannte „Dethlinger Teich“ bei Munster. Die deutsche Wehrmacht füllte dort Kampfgas in Geschosse ab und kippte den Ausschuß in das benachbarte Gewässer. Nach Kriegsende schütteten die Alliierten die Reste der zerstörten Anlage noch dazu und planierten das Gelände.

Ob das Land tatsächlich gewillt ist, das giftige Erbe aus dem Boden zu holen, wird sich am Beispiel Dragahn erweisen. Auf einem Gelände der IVG — direkt neben dem Standort der einstmals geplanten atomaren Wiederaufbereitungsanlage — verbrennt heute die Firma Kaus & Steinhausen alte Nato-Munition unter freiem Himmel. Der Boden darunter ist vermutlich mit TNT verseucht: Überreste einer Munitionsfabrik. Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg befürchtet jetzt, daß statt zu sanieren einfach ein neuer Verbrennungsofen auf dem Gelände gebaut werden soll. Kaus & Steinhausen haben das bereits beantragt. Noch betont die Bezirksregierung in Lüneburg, daß sie den Bau nur genehmigen wolle, wenn bei der Untersuchung der Bauplatzes kein TNT gefunden wird.

Doch die Interessen der hannoverschen Landesregierung könnten schwerer wiegen: Eine Verbrennungsanlage wird gebraucht, um die anderenorts ausgegrabene Munition zu beseitigen.