Nudeln und Reis aus dem Bauch der Galaxy

Berlin-Neukölln sammelte für die russische Partnerstadt Puschkin/ Die US-Armee schickte ihr größtes Flugzeug/ Bezirksbürgermeister Buschkowsky setzte auf „unsere amerikanischen Freunde“/ Presseauflauf bei Schneematsch und Eis  ■ Aus Puschkin Heide Platen

All die Jims, Jacks und Joes sind morgens um 6 Uhr schon begeistert bei der Arbeit. Sie verladen 60 Tonnen Lebensmittel und Hilfsgüter und ein gutes Dutzend JournalistInnen in den Bauch der haushohen Galaxy C-5 auf dem Rollfeld des Berliner Flughafens Tegel. „It's great!“ sagen sie immer wieder, „einfach großartig!“ Scheinwerfer strahlen in den Frachtraum der gigantischen Militärmaschine, die die riesigen Flügel in Landeposition wie eine grimmige Hornisse hängen läßt. Nur die russische Antonow ist größer.

Die GIs fotografieren sich gegenseitig fürs Familienalbum, Jack den Joe und Joe den Jack. Ob diese Maschine auch im Golfkrieg geflogen sei? „Sure“, meint einer der Joes: „Aber das hier ist besser!“ Von „da unten“ hat er auch Fotos an die Familie geschickt. John O'Brian aus New Jersey zerrt auf einer der letzten Paletten noch schnell ein Sauerstoffzelt fest.

Die GIs gähnen schon, als die ersten Honoratioren auf dem Flugplatz eintreffen. Dann fotografieren die Soldaten die Fotografen und umgekehrt. Vier Reden werden gehalten, ehe die Maschine in Richtung der Partnerstadt des Berliner Bezirks Neukölln abhebt, nach Puschkin bei Sankt Petersburg. Mit an Bord sind der Initiator der Aktion „Neukölln hilft Puschkin“, der Berliner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, und sein Pressesprecher Eike Warweg.

Zwei Stunden in der Galaxy — Pressegespräche unter erschwerten Bedingungen: lärmdämpfende Ohrstöpsel und Lunchpakete. 320.000 englische Pfund wiegt das Kerosin. Befördert werden 60 Tonnen Lebensmittel und Medikamente, das meiste davon gesammelt und gepackt von Neuköllnern. Der Berliner LKW-Konvoi, der in diesen Tagen in Puschkin eintreffen soll, kostet nicht mehr und transportiert 100 Tonnen Hilfsgüter. Darüber rechnet Buschkowsky schnell hinweg. In der durch die Umstände gebotenen Lautstärke nennt er sich einen „kleinen Dorfbürgermeister“, dem es gelungen ist, das Riesenflugzeug „dank unserer amerikanischen Freunde“ in Bewegung zu setzen. Und daß er dabei ein völlig neues Verhältnis „zur Tonnage“ bekommen habe — und zum Bonner Verteidigungsministerium, das ihm kein Flugzeug geben wollte. Die US-Army sandte das Transportflugzeug von der Rhein-Main-Air- base, dem Zentrum der amerikanischen Rußland-Hilfe „Operation Provide Hope“, die US-Außenminister James A. Baker Ende Januar in Washington vorgestellt hatte, postwendend an die Spree — nebst Journalisten-Betreuer John Woodhouse und Pressemappen. Währenddessen sind fast alle Jims und Joes eingeschlafen.

Ausladen in Puschkin: Der eisige Wind bläst durch die endlose Begrüßungszeremonie. „Zurück! Zurück!“ brüllt ein Rotarmist die halsbrecherisch zwischen Ladung und Bordwand herauskraxelnden, draußen von Buschkowsky sehnlich erwarteten MedienvertreterInnen an. Schneematsch auf dem Rollfeld, die Turbinen dröhnen, die Kameras surren endlich. Bürgermeister Buschkowsky nimmt ein Paket, „irgendeines, ist doch egal“. Das trägt er so stolz rund um die Galaxy spazieren, als ob er alle selbst gepackt hätte. Im Flughafengebäude, hinter weißen Wolkenstores, noch vier Reden. Bescheiden dankt Bürgermeister Nikiforow seinem kleinen, umtriebigen Kollegen aus Berlin. Er habe, sagt er, „ein wenig Angst, zu große Worte zu gebrauchen“. Die Hilfe aus Deutschland und aus den USA sei „wirklich für die Leute bestimmt, die sie brauchen“. Das, hatte „Gospoda Buschkowska“ angekündigt, werde er persönlich ebenso überwachen wie die Einrichtung einer Armenküche, für die von Berlin aus schon zwei Köche vorausgeflogen waren. Nikiforow setzt vor allem auf die ersten Kontakte, die einige Puschkiner Betriebe bereits mit westlichen Firmen geknüpft haben.

Mister Woodhouse drängt zurück zum Flugzeug. Ohne Visa kein Blick auf den Katharinenpalast, die Sommerresidenz der Zaren mit den goldenen Kuppeln, nicht auf die Verteilung der Lebensmittel, die auch — auf eine Lastwagenflotte — verladen werden. Um diplomatische Verwicklungen zu vermeiden, und vielleicht auch aus Langeweile, zählt Woodhouse seine Schutzbefohlenen nun schon zum ungefähr zehnten Mal durch. Die stehen im Frachtraum der Galaxy und frieren, während der Offizier der russischen Armee die Pässe prüft — einzeln, gründlich und mit dem Gestus, als sortiere er Mastschweine — die einen hierhin, die anderen dorthin. Während des Wartens entwickeln die Dienstanweisungen an den Wänden der Galaxy durch wiederholtes Lesen ihre eigene Faszination: „Detend Locking Handle Up — Unlocked“. Oder: Welche Kochrezepte lassen sich eigentlich mit den 23 Zutaten aus einem Standardpaket zusammenstellen? Bohnen mit Schmelzkäse, Mehl und Reis, Grieß, Haferflocken, Nudeln, Fleischkonserven, eine Dose Fisch?

Währenddessen des Wartens wird unter dem Flugzeugbauch schwunghafter Kleinhandel getrieben. Russische Soldaten verkaufen das, was sie noch immer reichlich haben: Soldatenmützen und Blechorden. Die Jungs aus Oklahoma und Idaho sind begeistert. Zweieinhalb Flugstunden später, der Pilot ist ein Dutzend Mal interviewt worden, im Scheinwerferlicht der Rhein-Main-Air- base, ein letzter Blick auf Paletten, Paletten und noch einmal Paletten mit Reis, Mais, Nudeln und Mehl usw. Die US-Army demonstriert Stärke. „Rufen Sie mich doch einfach wieder an“, sagt Officer Woodhouse zum Abschied.