Eingefrorene Völkerverständigung

■ »Holiday on Ice« ist in der Stadt. Wir waren natürlich da.

Der Vorhang glitzert, das Eis blinkt. »Wir begrüßen Sie recht herzlich...«, dröhnt es aus den imposanten Lautsprecherboxen, »bei der neuen spektakulären Revue-Inszenierung von Holiday on Ice.« Heute abend begehen wir, die wir den weiten Weg in die Deutschlandhalle selbst angesichts dieses naßkalten Wetters nicht gescheut haben, »ein Fest der Nationen dieser Welt«. Auf dem Eis. Eingefrorene Völkerverständigung, gewissermaßen, mit dem, was ARIES MUSIC GmbH für »Stars aus aller Welt« hält: Mit Nikolay Ulanov aus Rußland, Michelle Millikan aus den USA, mit der feschen Anita Curtis aus dem United Kingdom und mit der recht klamm bekleideten Schwedin Susanne Lidholm.

Eine internationale Besetzung, gewiß. Aber an ihrer Spitze, der Superstar, er ist natürlich ein Deutscher! Und auf ihn, ja — auf ihn warten wir alle. Wegen ihm pilgern die gereiften Damen im hochgezüchteten Nerzmantel an diese unatmosphärische Stätte. Noch einmal den Norbert Schramm wollen sie sehen, bevor er sich nach acht Jahren Eisrevue endlich zur Ruhe setzt. Bevor er die ausgetretenen Schlittschuhe endgültig an den Nagel hängt — Geld genug wird er mittlerweile sicher haben! — und fortan in Frührente, vielleicht bei SAT.1 den Kokommentator mimend, seinen so erstaunlich spitzen Po platt sitzt.

Dahin wird es sicher einmal kommen, aber — Gott sei Dank! — noch ist es nicht soweit. Noch gibt es Langnase Schramm und all die andern, heute sogar live und in Farbe. Wer vorne sitzt, ist so nah am Geschehen, daß er das Eis gequält quietschen hören kann, die hinteren Bänke haben dafür das Vergnügen einer angemessen größeren Übersicht. Die braucht man auch: denn was dann in den nächsten zwei Stunden auf uns zukommt, zuschlittert, zusportet — es wird jeder ornamentalen Beschreibung spotten. Busby Berkley ist tot. Es lebe Busby Berkley! Kreise, Sterne, wieder Kreise. Schwenk nach links, Schwenk nach rechts. In diesen Internationalen Eisferien geht es zu wie auf dem Truppenübungsplatz der Tiller-Girls. Nur bunter ist es. Viel bunter.

Leichtbeschürzte Tambourmariechen in aufdringlichem Königsblau kufen auf dem künstlichen Eis umher, eine riesige Trommel vor ihren Lenden herschiebend — da vibriert es bei jedem neuen Schlitterschritt, und mit dem Feldstecher läßt sich lüstern beobachten, wie das militäre Musikinstrument gelegentlich ganz zart die jungfräulichen Brüste berührt. So trommeln und trommeln sie, was das Zeug hält. Locken damit immer weitere und weitere Mädels herbei. Tam-taratam, tam-taratam. Dieses akustische Inferno ruft nun wieder eine Garnison schlägelnder Buben auf den Plan, die sich auch nicht lumpen lassen und ihrerseits lautstark hinter dem Vorhang hervormusizieren. Pflichtbewußt reihen sie sich ein, wirbeln ebenfalls herum — links herum, rechts herum. Heißa, was für eine Freude! Da ziehen sie ihre Kreise, daß einem ganz schwindelig werden kann, und sie freuen sich so sehr, daß man ihnen den ohrenbetäubenden Lärm gern verzeihen will. Irgendwann, irgendwie entsteht eine hübsche Pyramide, und das könnte nun wirklich das begeisternde Finale des Abends gewesen sein — Applaus! Applaus!—, aber richtig: wir sind ja erst ganz am Anfang der großartigen Eisrevue, und so geht es weiter und weiter und weiter.

Da! Ein Kellner mit Keulen betritt die Bühne. Was macht der denn nur? Er schmeißt sie hoch, fängt sie ein. Immer wieder, immer wieder. Das Prinzip der Revue ist die Wiederholung. Der Kellner jongliert mit Keulen, er jongliert mit Ringen, und weil's so schön ist, schmeißt er dann auch noch mit Hüten und Bällen durch die Gegend. Weil aber selbst das der Wiederholung noch immer nicht genug ist, muß es noch einen »dummen August« an seiner Seite geben. Der versucht natürlich auch zu keulen, zu schmeißen und zu brillieren, macht dann aber doch alles falsch, und dieses perfekt kalkulierte Versagen gefällt besonders den Leuten auf den billigen Plätzen.

Nun schmeißt der Kellner, der keiner ist, einen Ball in die Menge — hepp! — und fängt ihn mit einem kleinen Stäbchen im Mund wieder auf — schubs, schubs! Schwer in die Knie muß er dabei gehen, oder seinen Hals lang und länger machen — schwubs! — schon wieder gefangen. Es ist das Bild vom Seehund im Vergnügungspark. Breitbeinig watschelt der Kellner von Zuschauer zu Zuschauer, nickt einladend mit dem Kopf und — hepp! und — oh, daneben! Ein älterer Herr in der ersten Reihe, in auffallend diskretem Trenchcoat, mit bestechend dicken Brillengläsern, spielt — hepp! und schubs! — sein eigenes Spiel. Umständlich clownesk steht er auf, das Publikum staunt, täuscht seinen Wurf hintertücksch an — he-he-hepp! — das Publikum lacht. Moment noch. Die Brille stört, die muß ab, Moment bitte! Das Publikum klatscht. Jetzt gibt sich der Herr aber Mühe. Konzentration — zurücklehnen — ausholen — dann endlich der Wurf — h-e-e-pp!! — Oh weh! Da liegt der arme Kerl, ohne Brille ohne Mantel, rücklinks auf seinem Allerwertesten. Oh Gott! Das Publikum, es gröhlt und johlt vor rasender Begeisterung. Will Zugaben von diesem armen Teufel, der sich wohl doch zuviel zugemutet hat, der wohl die unerwartet dargebotene Sonne des Rampenlichts voreilig für seine Zwecke nutzen wollte. Pech gehabt, hingefallen, rot geworden. So ist das im Leben.

Die Show geht weiter, Klatschmarsch bitte. Kellner raus, Mädels rein. Und wieder drehen sie ihre Runden, links herum, rechts herum. Diesmal sehen sie alle aus wie russische Matrjoschka-Puppen, gleiche Gesichter, gemischte Gefühle. Drei Pirouetten, eine Volte, dann Puppen raus, Norbert rein. Endlich! Darauf haben wir doch schließlich alle gewartet. Da sprintet er herein, in Krachledernen und mit seiner langen, langen Charakternase. »Mir san die fröhlichen Holzhackerbuabn!« jodelt es aus den riesigen Lautsprechern und die preußischen Fans gehen begeistert mit. Norbert läßt sich nicht lumpen, springen konnte er ja schon immer, und so rittbergert und toulupt er sich über die bayerisch dekorierte Eisfläche. Wie schuhplattlert man auf Schlittschuhen? Warum schlägt ein Bayer Purzelbäume auf dem Eis? Aus Übermut? Zicke-zacke-rumta-ta. »Gaudi in Bayern« heißt Schramms Glanznummer, und dann kommt er noch einmal viel später beim endgültigen Finale. Da haben wir schon die »Winternacht auf dem Roten Platz« hinter uns, das waren zwanzig lebende Schneeflöckchen im Kreisornament, und die »Erinnerungen an New Orleans« mit zwanzig Banjos und dem gesamten Corps de ballett.

Finale folgt auf Finale, ein abgekupferter Starlight-Express rauscht vorbei, und als es dann schließlich wirklich aufs Ende zugeht, will es keiner mehr glauben. Da kommen zum — wievielten? — Male die kurzbeschürzten Mädels und die Jungs in den geilen Strumfhosen auf die inzwischen schwer aufgeweichte Bühne, drehen ihre Kreise, New York, New York!, tanzen den Mambo, hüpfen auf Kufen, daß die Uniform-Troddeln ins Schwingen geraten und Susanne Lidholm sich vor Überschwang noch ihrer letzten entbehrlichen Klamotten entledigt. So gröhlt es dann noch ein letztes Mal auf den billigen Plätzen, und unter begeistertem Toben verschwindet die Schwedin in einer überdimensionalen Torte, um Minuten später — A Star is born! — im Feuerwerkregen wieder emporzusteigen. Deus ex machina. Teufel aus der Dose.

Höher und höher hebt die Hydraulik das arme Mädchen empor. Nun schwebt sie, jenseits von Gut und Böse, bereits auf Höhe der allerbilligsten Ränge... »Guten Tag, mein Name ist Lindström, wie heißen Sie?« Wenn das keine Show ist! Da kann nun nicht einmal Busby Berkley noch mithalten. Freude, schöner Götterfunke schallt es und schallt es. Das Corps de ballet trägt noch weniger als eben, dafür sind sie mit Glühwürmchen behangen, als wär‘s noch immer Weihnachten. »Ach, sieht das schön aus!« freut sich die Masse. Der Herr mit dem unauffälligen Trenchcoat ist schon lange gegangen. There's no business like showbusiness. Und in der Kantine ist es allemal gemütlicher. Klaudia Brunst