»Wir sammeln alles ...

■ ... was zum Werden und Wachsen und zum Untergang der DDR beigetragen hat« — so ist das Motto der Gesellschaft zur Sammlung und zum Studium von Kultur- und Geschichtsgut der Ex-DDR e.V.

Devotionalien — Hier und Heute“: Bunte Filzbuchstaben umwerben die vorbeieilenden Passanten. Die Holztafel auf dem Bürgersteig Unter den Linden paßt so gar nicht zu der neuen Leuchtreklame, die sich am Bummelboulevard breitzumachen beginnt.

Die Adresse Unter den Linden 36-38, ein Haus mit Geschichte. Hier hatte der einst so übermächtige Monopolist in Sachen DDR-Jugend sein Hauptquartier. Die ehemalige Zentrale der Freien Deutschen Jugend heißt jetzt „Haus der Jugend“. 25 Kinder- und Jugendorganisationen, von der Gewerkschaftsjugend bis zum Ring Christlich-Demokratischer Studenten, haben in dem riesigen Gebäudekomplex ihren — provisorischen — Sitz gefunden. Die jungen Interessenvertreter haben neue Nachbarn bekommen: In den unteren Stockwerken verscherbelt die Abteilung Liegenschaften der Treuhand AG Grundstücke an solvente Investoren, haben Finanzberater, Versicherungsmakler und Vertreter der Stahlfirma Hoesch ihr Quartier aufgeschlagen.

Fünfte Etage, wenige Schritte hinter dem Treppenportal: eine gewaltige Ansammlung von Insignien ostdeutscher Konsum- und Präsentationskultur der Vorwendezeit wartet im stuckverzierten Raum auf ihre Kundschaft. Tribünenhüte für 12 Mark, Pioniertrommeln für 80 Mark, der Handrasierapparat LM 68 für eine Mark, die Erich-Weinert- Medaille in Gold für 120 Mark. Ehrenwimpel, Anstecker und Flaggen in allen Farben und Größen. „Wir verkaufen hier nur unsere Überschußobjekte“, erklärt der junge Mann im kurzärmeligen Hemd und lädt einen Stapel „Pionierlieder zum Mitsingen“ auf dem Verkaufstisch ab.

Jürgen Scharnetzki, 31, ist Geschäftsführer der„Gesellschaft zur Sammlung und zum Studium von Kultur- und Geschichtsgut der ehemaligen DDR e.V.“ „Was war das noch mal?!“ lautet die meistgestellte Frage, die der arbeitslose Veranstaltungsunternehmer täglich beantworten muß. „Die Leute haben ja alles, was mit der DDR zu tun hatte, sofort weggeworfen. Einige sind von dieser massiven Ballung ehemaliger DDR-Insignien regelrecht erschlagen und drehen sofort an der Tür um, wenn sie die roten Fahnen sehen.“

Die meisten Besucher, Ossis wie Wessis, verweilen lange zwischen den Verkaufstischen. Gemächlich stöbern sie im Bücherregal, nehmen jede Auszeichnung einzeln in die Hand. Max Nähr aus Pankow gehört zu den Stammkunden. „Bald wird es diese Stücke nicht mehr geben. Dann ärgere ich mich, daß ich sie nicht gekauft habe. Gegen die Anstecker kann man doch wirkich nichts sagen, die sehen einwandfrei aus.“ Als Treuegeschenk überreicht ihm Jürgen einen Schlüsselanhänger der FDJ.

Die Mitbringsel wird Rentner Nähr in seiner Glasvitrine aufbewahren. Was treibt den Sammler immer wieder in das „Haus der Jugend“? „Das sind 40 Jahre deutsche Geschichte hier, und die wollen die meisten DDR-Bürger über Nacht wegdrücken.“ „Abwickeln“ heißt soviel wie „Liquidieren“, hat der Pankower in einem Wirtschaftslexikon gelesen.

„Wir sammeln alles, was zum Werden und Wachsen und zum Untergang der DDR beigetragen hat“, umreißt Jürgen die Vereinsziele. „Der Verein ist parteiunabhängig, überkonfessionell und demokratisch“, verkündet die Satzung. Neben Jürgen widmen sich sechs Mitglieder der „Aufarbeitung und Pflege des historischen und kulturellen Erbes der ehemaligen DDR“. Sie alle sind im „Haus der Jugend“ keine Unbekannten: Bis vor anderthalb Jahren arbeiteten sie in der FDJ. Der alte Arbeitgeber, mittlerweile in Kleinschrift firmierend, hat sein Büro eine Tür weiter.

Zehn Jahre rackerte Jürgen als „Kulturmanager“ bis zu 16 Stunden am Tag, war „Mädchen für alles“ bei allen großen Auftritten der jungen TänzerInnen des Zentralen Pionier- Tanzensembles. Nach der Wende wurde das Ensemble verkleinert, Anfang 1990 schließlich aufgelöst. Massen, sagt er, hätten ihn schon immer fasziniert. „Unsere Eröffnungsveranstaltungen konnten sich mit den Olympia-Zeremonien durchaus messen“, kommentiert er den Einmarsch der AthletInnen in den französischen Alpen, der via „Novamat“ in das Zimmer flimmert.

1990 — für Jürgen das „Jahr der großen Lähmung“. Die Ost-Jugend kehrte der FDJ den Rücken, die Funktionäre der Jugendschmiede verzettelten sich in einen „Kleinkrieg“. Containerweise wurde Akten und „Andenken“ entsorgt. Mit Freunden zog er daraufhin durch das Haus und rettete „die Objekte, die noch vor kurzem unseren Alltag mitgeprägt haben“, vor der endgültigen Vernichtung. Im März 91 gründeten die Sammler dann den Verein.

In versiegelten Panzerschränken warten jetzt Tagebücher, Ferienlager-Berichte und das Diskotheken- und Rockgruppen-Archiv auf ihre Auswertung. An diese Bestände läßt Jürgen noch keinen heran: „Datenschutz.“ Bald soll der Zugang für Interessierte ermöglicht werden. Personal- und Kaderakten — ein Großteil ist längst Opfer des Reißwolfs geworden — sind in den engen Räumen nicht aufzufinden. Das Zentralarchiv der FDJ lagert ein Stockwerk höher in den Schränken des „Instituts für zeitgeschichliche Jugendforschung“. „Dort sind sie auch besser aufgehoben. Wir sind ja keine ausgebildeten Historiker“, räumt Jürgen ein. Einige Gegenstände sind deshalb schon an Ostberliner Museen übergeben worden.

Prunkstück des Vereins ist der „Club unter den Linden“. Hier versorgt Präsident Renaldo Tolksdörfer — er machte sich in der Vorwendezeit mit Gedichten in der Neuen Welt einen Namen — die Gäste mit Würsten, Mars und Berliner Pilsener. „Manchmal kommen auch die Manager von unten herauf. Die sind von unseren Ausstellungsobjekten sehr angetan.“ Auf einer Konsole thront der TV-Apparat „Rembrandt“. Ein Geschenk Wilhelm Piecks an die Pionier-Republik am Werbellin-See anläßlich der Eröffnung des zweiten Teillagers. An den Wänden Wandteppiche, Aquarelle und Ölbilder von Lenin, Marx, Thälmann und Honecker & Co. Neben dem Kosmos- Teddy des ersten deutschen Raumfahrers, Sigmund Jähn, finden sich auch Gebrauchsgegenstände aus dem DDR-Alltag wie „quasi“, das bleichende Putz- und Scheuermittel mit keimmindernder Wirkung, und die schwarze „Schuhkrem“ von Wittol.

Cocktailfreunde, auf der Suche nach einem schicken In-Treff, sind im „Club“ bislang noch nicht gesichtet worden. Am Abend lassen sich Tegeler Abiturienten nach vollbrachtem Prüfungsstreß die großen Hellen schmecken.

Nein, der Gesellschaft gehe es nicht um einen kommerziellen Gag, versichert Jürgen. „Was wir wollen, ist vor allem: provozieren. Wir wollen den Leuten Erhaltenswertes erhalten und sie zum Nachdenken anregen.“ „Du Ewiggestriger“, „Du rote Socke“ hätten ihn einige Besucher tituliert. „Dabei haben wir doch ein viel entspannteres Verhältnis zu unserer Vergangenheit als die Verdränger. Indem wir die ganzen Sachen hier ausstellen, fühlen sich die Leute wenigstens für kurze Zeit wieder daran erinnert, daß es einmal so etwas wie die DDR gab. Und die bestand nicht nur aus Parteiverbrechern und Gossenkriechern.“ Die Diskusion um Erich den Kranken und die IMs — Jürgen will nichts mehr davon hören.

Ohne erläuternden Beitext präsentieren sich die Devotionalien den Neugierigen. Natürlich könne man kein „umfasssendes Geschichtsbild“ liefern. Werten wolle man nicht, da man noch kein „abschließendes Bild“ habe. „Ich weiß noch nicht: was war gut und was schlecht“, sagt Jürgen. „Meine Gedanken schwimmen noch hin und her. Ist das schlimm?“

Ob mit der gewählten Präsentationsform der umfassende Lenkungsanspruch der Kampfreserve FDJ verhüllt werde? Jürgen zuckt mit den Schultern. Daß es zwischen Strukturen und Propaganda von NS-Jugendorganisationen und der FDJ Parallelen gebe, vermutet auch er. „Verherrlichen soll der museale Club auf keinen Fall. Wichtig ist doch, daß wir die DDR überhaupt als geschichtliche Realität betrachten — und diese Gegenstände gehörten doch zu unserem täglichen Leben.“

Auf der Suche nach Literatur von Angehörigen der DDR-Justiz betritt ein Kölner Staatsrecht-Dozent den „Club“. Er macht Beitrittsgebietler für die Aufgaben im öffentlichen Dienst fit. „In den Crash-Kursen merke ich, daß die Leute total abblocken, wenn sie auf ihre Vergangenheit angesprochen werden. Es sieht hier zwar aus wie in einer Nachlaßverwaltung, doch ich glaube, daß man so besser seine Vergangenheit abwägen kann als beim Glotzen der abendlichen Fernsehtribunale. Die DDR-Vergangenheit professionell bewerten und aufarbeiten: Wer kann das momentan schon?“ Andreas Schmidt