Redeballett auf der Dartsscheibe

■ Thomas Hartmann inszeniert Lessings „Emilia Galotti“

Keine Perücken, keine Seidenhosen, kein barockes Mobiliar. Statt dessen eine leergefegte Bühne, kreisrund mit marmorierten Intarsien, die an die Felder einer Dartsscheibe erinnern. In deren Mitte — touché — wird intrigiert, gestorben oder sich umarmt. Um diese Scheibe laufen auf Schienen riesige Seitensegmente, die Türen, Fenster, Ausblicke und Landschaften suggerieren, den Raum öffnen und schließen. Eine ausgeklügelte Mechanik.

Manchmal kippt die Scheibe aus der Horizontalen, wenn es beispielsweise eng wird für den Verführer, Prinz von Guastalla, und seinen willfährigen Marchese Marinelli bei ihrer Jagd auf Emilia, die eigentlich gar nicht mehr zu haben ist, weil sie noch am nämlichen Tag den Grafen Appiani heiraten soll. Die Tragödie ist auch ein Drama des falschen Timing. Alles, was passiert, passiert im falschen Augenblick, wobei die eine Partei die Zeit beschleunigen, die andere am liebsten anhalten möchte. Thomas Hartmann, der Regisseur, macht diesen Wettlauf mit der Zeit durch unterschiedliche Tempi szenisch augenfällig.

Aber noch etwas gelingt dem jungen Regisseur, der bereits durch seine vielbeachteten Inszenierungen von Büchners Leonce und Lena, Marivaux' Spiel von Liebe und Zufall und ebenfalls Lessings Minna von Barnhelm am hannoverschen Ballhof von sich reden machte. Er inszeniert die Emilia als Redeschlacht, als ein streng choreographiertes Redeballett. Dabei fokussiert er die Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz auf die Lessingsche Sprache, deren Eleganz die Klarheit, deren Schönheit die Präzision ist. Daß Lessing ein großer Disputator war, davon zeugen nicht zuletzt seine Polemiken gegen den Hamburger Hauptpfarrer Götze. Es ist, als habe Hartmann Hugo von Hofmannsthal zum Cicerone seiner Inszenierung gemacht, der über die Sprache der Emilia schreibt: „All diese Figuren reden in scharfen Antithesen, in pointierten Wendungen, als ob sie alle Denker wären. Für diese Sprache läßt sich nur das eine sagen, sie hat ein solches geistiges Leben in sich, daß sie aus dem Stück etwas Unwesentliches macht.“

Hartmann akzentuiert die Rededuelle durch die Auftritte: Immer zwei, höchsten drei Schauspieler sind auf der Bühne, scharf gegeneinander gestellt, so daß in jedem Augenblick klar ist, daß es hier um Gewinnen und Verlieren, Tod und Leben, daß es jederzeit ums Ganze geht. Rededuelle werden ausgefochten — bald ironisch und intelligent, bald rührend und unschuldig, grell und gefährlich leise, in denen stets einer den anderen zum Instrument seines Willens und seines Begehrens machen möchte. Der Prinz hat seine Lust, Marinelli seine Karriere im Auge, die Orsina denkt an ihre Rache, Odoardo an seine Ehre, Emilia an ihre Unschuld und so fort.

Geschickt versteht es Hartmann, Charaktere und seelische Befindlichkeiten in bühnenwirksame Bilder umzusetzen. Wie überlegt und überlegen er da vorgeht, wird an einer eher marginalen Szene wunderbar deutlich. Im Auftrag Marinellis sucht der Bandit Angelo seinen ehemaligen Spießgesellen Pirro auf, der inzwischen in Diensten des Grafen Appiani steht, um die Umstände der Hochzeit auszukundschaften. Eine Szene — zwei Temperamente — aufeinanderprallende Interessen. Angelo ist ein entschiedener Schuft, Pirro will ehrbar werden. Angelo (Ernst-Erich Buder) ist schwer, dunkel, unbewegt wie ein Block; Pirro (Michael Fuchs) — nomen est omen — labil, fragil, flatternd wie ein Vögelchen in der Falle. Keine Frage, wie das ausgeht. In einer ungemein ästhetischen Opposition wird die Situation von jeder sprachlichen Entscheidung schon körperlich konkret.

Am eindrücklichsten gelingt Hartmann das mit den Figuren des Prinzen, Marinelli und der Orsina. Der Prinz (Peter Albers) ist ein verwöhntes, verzogenes Kind. Gibt es einen schlimmeren Tyrannen? Unter seinem frustrierten Begehren krümmt er sich mit zusammengedrückten Knien, als müsse er ganz schnell auf den Topf. Er hat plötzlich eruptive Wutausbrüche, unter denen sich Marinelli duckt, wobei er schon vorneweg immer seine Brille abnimmt, als sollte er Watschen bekommen, wodurch er den Eindruck des prinzlichen Furors noch verstärkt. Marinelli (Germain Wagner) dagegen ist kein eleganter Salon- Mephisto, sondern ein furchtbarer Bürokrat in viel zu knappem Konfirmationsanzug. Ein Subalterner, der jeden seiner Sätze mit einem dienstwilligen „Ja“ endet oder beginnt, was zwar bei Lessing so nicht steht, aber die Rolle wunderbar akzentuiert. Hinter Marinelli kann man Maidanek, das KZ, sehen.

Und schließlich die Orsina (Johanna Gastorf, von 'Theater heute‘ zur besten Nachwuchsschauspielerin 1992 gewählt). Den Adel von Sprache und Gesinnung setzt die Castorf in glanzvolle Allüre um. Sie macht augenfällig, daß die Frauen in Lessings Stücken stets die tougheren sind — charaktervoller und seelenstärker als die Männer. Daß die Frauen die eigentlichen Herren sind. Und so macht es auch Sinn, daß Ida Ehre, im Alter gefragt, welche der Rollen, die sie noch nicht gespielt habe, sie wohl noch spielen möchte, den Nathan nannte. Denn Nathan ist, so wie Lessing Frauen versteht, eigentlich auch eine Frau. Bleibt abzuwarten, wann einem Regisseur das einmal auffällt. Michael Stoeber

Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti . Regie und Raum: Matthias Hartmann. Mit Christiane Obermayer, Johanna Gastorf, Günter Kütemeyer, Angela Mythel, Peter Albers, Germain Wagner. Landestheater Hannover, Ballhof. Nächste Aufführungen: 27. und 29.2, 6., 14. und 17.3.