Eine Amerikanerin in Berlin

Martin Scorsese ist im heutigen Kino der Inbegriff des Vorwärtsdrängens. Dieser furiose Schwung macht seine besten Werke zu filmischen Raketen: „Taxi Driver“, „Raging Bull“, „Good Fellas“. Seine schwächeren Filme mißlingen, weil ihre Geschichten zu abgeschlossen, zu genügsam sind, als daß er sich auf seine Flugbahn begeben könnte. Dieser Vorwärtsdrang läßt Scorsese- Zuschauer atemlos auf den nächsten Schritt warten, besonders wenn er Wut und Sex filmt. (Da er in „The Last Temptation“ beides vermied, wurde es ein mittelmäßiger Film.) Einige Regisseure sehen Gewalt und Begierde als Eruptionen: Sam Peckinpah ist das beste Beispiel, aber es gilt auch für die Brüder Coen („Barton Fink“) und Robert Benton in „Billy Bathgate“. Einige, wie Brian De Palma, sehen sie als Schlangen im Gras. Scorsese begreift sie als Geschosse, die man kommen sehen kann.

Dieser Vorwärtsdrang ist die beste Metapher für die Amerikaner von Scorseses Generation — Einwanderer, gehetzt von den Versprechungen der Mobilität. Ihr Leben war motiviert — buchstäblich angetrieben — vom Kampf und seinem Ende, von der Bemühung, irgendwo hinzukommen. Wenn die spielerischen Verheerungen der Fernsehfilme wiedergeben, was das Leben der (nicht frisch eingewanderten) Amerikaner in den letzten 15 Jahren an Sinn und Ziel einbüßte, dann spiegelt Scorseses Regie den Schwung einer früheren Einwanderergeneration. (Der nächste Filmemacher des Vorwärtsdrängens wird vermutlich Kind koreanisch-amerikanischer Einwanderer sein.) Die Ziellosigkeit und Entdeckerfreude von „After Hours“ zum Beispiel sind nicht Scorseses Sache; er machte keinen guten Film daraus. Dafür muß man sich die Filme von Jim Jarmusch ansehen, den neuen Film „Slacker“ und im Fernsehen „Saturday Night Live“, um ein paar Beispiel zu nennen. Scorsese ist nichts als drive — es gibt für ihn kein besseres Genre als Gangsterfilm und Thriller.

Die ersten dreißig Minuten von „Cape Fear“ gehören zu den aufrüttelnsten der Filmgeschichte. „Cape Fear“ ist eine Neuauflage des Thrillers von 1962 mit Gregory Peck und Robert Mitchum (unter der Regie von J. Lee Thompson), die Geschichte eines religiösen Psychopathen (Robert De Niro), der soeben aus dem Gefängnis entlassen wurde; er lauert seinem ehemaligen Anwalt und dessen Familie auf (Nick Nolte, Jessica Lange, Juliette Lewis), weil der Anwalt ihm vor 14 Jahren in einem Vergewaltigungsprozeß keinen Freispruch verschaffen konnte. Um eine Atmosphäre des unaufhaltsam Bösen zu erzeugen, bedient sich Scorsese einer Reihe direkt aneinander geschnittener Einzeleinstellungen — De Niros Entlassung aus dem Gefängnis, Nolte bei der Arbeit, Lange und Lewis daheim. Es ist die klassische Hitchcocksche Spannung, aber wo Hitchcock dem Zuschauer Schritt für Schritt den unvermeidlichen Schrecken nahebringt, arbeiten Scorsese und seine langjährige Cutterin Thelma Schoonmaker mit grauenerregendem Tempo. Das ist der Drang nach vorn. Die Kamera eröffnet die Szenen so schnell, daß sie in Figuren und Gegenstände förmlich hineinkracht (Kamera: Freddie Francis); die Blitzlichtaufnahmen von Nolte und de Niro in schwarz-weißem Negativ wandeln sich zum heißen Rot, Blutrot. Dazu kommt die langgedehnte, mahnende Filmmusik von Bernard Herrmann (neu arrangiert von Elmer Bernstein). Das Ergebnis: ein tour de force-Film.

Zwei Besonderheiten von „Cape Fear“ verdienen Erwähnung. Die erste ist das Skript von Wesley Strick auf der Grundlage des Drehbuchs von James Webb nach John Mac Donalds Roman „The Executioners“. Es zeigt einen unglaublich scharfen Blick auf die Ehebrüche und Jugendrebellionen des modernen Familienlebens; das macht dieses „Cape Fear“ glaubhafter als die frühere Version, in der die Familie nur gut und der lauernde Angreifer nur böse war. Indem Strick Details einfügt, etwa, daß der Anwalt während des damaligen Verfahrens Entlastungsmaterial zurückhielt, verstärkt er die Furcht vor den Schrecken von außen durch das quälende Problem der Geister in uns selbst. Die zweite unnachahmliche Leistung ist die Verführungsszene zwischen De Niro und Lewis. De Niro nutzt das Ressentiment des Teenagers gegen die elterlichen Verbote und seine Neugier auf sexuelle Beachtung aus und gewinnt so das Interesse des Mädchens als Vorspiel zu den späteren Brutalitäten, die er bereits plant. Die Szene muß überaus feinfühlig gespielt werden, und Lewis gelingt die schmerzvolle Gratwanderung zwischen Furcht und Erregung. Und Robert de Niro steuert seine wahnsinnige Rache als eine einzige lange Ejakulation der Wut durch den ganzen Film. Wegen solcher Qualitäten waren De Niro und Scorsese über zwei Jahrzehnte und sieben Filme ein solch gutes Team.

„Cape Fear“ hat auch Mängel, einer davon ist die Unwarscheinlichkeit von Noltes moralischer Krise. Wenn ein Psychopath Frau und Tochter barbarisch attackiert, wird Notwehr kaum zum ethischen Problem, selbst wenn Gewalt dabei im Spiel ist. Dieses künstliche Problem verschafft „Cape Fear“ seinen einzigen peinlichen Moment, wenn Nolte buchstäblich und melodramatisch das Blut an seinen Händen ins Spiel bringt. Und schließlich entspricht auch der Höhepunkt — der Angriff auf die Familie — nicht Scorseses Niveau. Obwohl die Szene sämtlichen Horrorkonventionen mehr als gerecht wird — die stürmische Nacht, der ständig wiederkehrende Unhold —, läuft sie verglichen mit der vorherigen Selbstbeherrschung ein bißchen auseinander und verliert ihre Schärfe an Genre-Pathos und heulenden Sturm. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning