„Menschenrechte sind die Feinde der Polizei“

Aufruhr und Demonstrationen türkischer Polizisten nach Attentaten auf Staatsanwälte und Polizisten/ Regierung Demirel wird für Terrorwelle verantwortlich gemacht/ Der Sicherheitsapparat ist längst zum Staat im Staate geworden  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Attentäter nahmen das Auto des Oberstaatsanwaltes der westtürkischen Industriestadt Bursa, Nural Ucurum, in ein Kreuzfeuer. Der Fahrer und der Sicherheitsbeamte wurden getötet. Der Oberstaatsanwalt wurde von drei Kugeln getroffen. Er kam mit dem Leben davon, doch wird er Zeit seines Lebens gelähmt bleiben. „Im Namen des Volkes haben wir, die ,Revolutionäre Linke (Dev-Sol)‘, Nural Ucurum bestraft“, meldeten sich die Attentäter mit einem Bekenneranruf zu Wort.

Der Anschlag auf den hohen Beamten des türkischen Staates fand am Dienstag morgen statt. Am gleichen Tag wurde in der kurdischen Stadt Diyarbakir der Korrespondent der kritischen Wochenzeitschrift '2000'e Dogru‘ (Richtung 2000), Halit Güngen, in seinem Büro erschossen. Er hatte zuvor einen kritischen Bericht über die in den kurdischen Gebieten operierende Terrorgruppe Hizbollah veröffentlicht, der Morde an oppositionellen Kurden zur Last gelegt werden. Die Kooperation von Sicherheitskräften und der schiitischen Hizbollah in den kurdischen Gebieten ist ein offenes Geheimnis. „Hizbollah wird im Polizeizentrum ausgebildet“, lautete die Titelgeschichte, an der Güngen zuletzt mitgewirkt hatte.

Seit die aus den Wahlen im Oktober hervorgegangene Regierung Demirel im Amt ist, wurden 162 Menschen Opfer politischer Gewalt. Doch nicht nur im kurdischen Bürgerkriegsgebiet sterben Menschen. Laut offiziellen Angaben kamen im Zuge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Armee 65 Menschen ums Leben. Demgegenüber wurden 65 Zivilisten, sieben Polizeibeamte und fünf Beamte im höheren Dienst ermordet.

Neu ist, daß zunehmend Angehörige der berüchtigten politischen Polizei sowie Staatsanwälte und Richter ermordet werden. Militante der „Revolutionären Linken“ und der PKK haben Attentate auf die „Volksfeinde“ auf ihr Programm geschrieben. Die Polizei ihrerseits macht bei Razzien auf „Terroristen“ kurzen Prozeß. „Terroristen tot gefangen genommen“, heißt es dann lapidar in den Presseerklärungen der Polizei.

Der Oberstaatsanwalt in Bursa war wohlbekannt. Als im Gefängnis Aydin während eines Hungerstreikes 1988 zwei Gefangene von den Wächtern zu Tode gefoltert wurden, war er zuständiger Staatsanwalt in der Stadt. Nur zwei Wochen zuvor wurde in Istanbul einer seiner Amtskollegen in Istanbul erschossen, Yasar Günaydin, Oberstaatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes, das für „politische Verbrechen“ zuständig ist. Auch Günaydin war kein Unbekannter. Nach dem Militärputsch war er als Staatsanwalt bei den Kriegsgerichten tätig. Nachdem die Kriegsgerichte ihr schreckliches Wirken eingestellt hatten, wechselte er zum Staatssicherheitsgericht.

Die Morde an Richtern, Staatsanwälten und Polizisten haben in der Türkei Aufruhr verbreitet. Nicht wenige Stimmen im Staatsapparat machen die neue Regierung für die Terrorwelle verantwortlich. Das Gerede der neuen Regierung Demirel über Menschenrechte, über gläserne Polizeiwachen und von dem Ende der Folter sei verantwortlich dafür, daß Polizisten ermordet werden. Bei der Beerdigung des Oberstaatsanwaltes schwörten Zivilpolizisten „Rache“ und zogen Parolen skandierend durch Istanbuls Straßen. „Nieder mit dem Justizminister“, „Nieder mit dem Ministerpräsidenten“, „Nieder mit den Kommunisten“, „Die Menschenrechte sind der Feind der Polizei“, „Die Menschenrechte sind der Feind der Türken“, „Auch wenn unser Blut fließt, gehört der Sieg dem Islam“, waren die Parolen. Polizisten ließen ihrem Unmut über die Regierung in einem Flugblatt freien Lauf: „Die Verräter, die schreien, daß es Staatsterror gibt, decken die Mörder der Beamten. Diejenigen, die sich für das Wohlergehen der Polizistenmörder in Gefängnissen einsetzen, schweigen, wenn es um den Schutz des Staates geht.“

Eines der Hauptangriffsziele ist der sozialdemokratische Justizminister Seyfi Oktay. Oktay hat maßgeblich mitgewirkt, daß das Hochsicherheitsgefängnis für politische Gefangene in Eskisehir — ein Symbol für Folter — geschlossen wurde. Der Justizminister arbeitet zur Zeit an einer umfassenden Gesetzesreform. Unter anderem soll das „Anti-Terror-Gesetz“, das willkürliche Polizeiübergriffe deckte und Folterer vor strafrechtlicher Verfolgung in Schutz nahm, weitgehend revidiert werden. Jüngst wurde eine Erklärung einer Gruppe von hohen Richtern publik, die in dem Minister ein Sicherheitsrisiko für die Türkei erblicken: „Eine Geisteshaltung, die die Polizisten und die Angehörigen der Sicherheitskräfte zu Folterern deklariert und die das Gefängnis Eskisehir schließen läßt, noch bevor die Regierung das Vertrauensvotum erhalten hat, will jetzt unter dem Mantel der Justizreform und der Menschenrechte die Macht der Justiz mit neuen Gesetzeswerken niederschmettern.“

Verärgert reagierte der türkische Premier Süleyman Demirel auf die Polizeidemonstrationen: „Sie protestieren gegen die Mörder. Dabei ist es doch die Aufgabe der Polizei, die Mörder zu fassen. Als ob einer etwas dagegen hätte, daß die Polizei die Mörder faßt.“ Der türkische Innenminister Sezgin leitete ein Ermittlungsverfahren gegen die demonstrierenden Zivilpolizisten ein. Unter anderem waren willkürlich Journalisten von rachsüchtigen Polizeibeamten angegriffen und verprügelt worden. Der Aufruhr der Beamten sei kein Grund, um den „Demokratisierungsprozeß“ abzubrechen, heißt es in Regierungskreisen. Doch der unkontrollierbare Sicherheitsapparat ist längst ein Staat im Staate. Der türkische Staatspräsident Turgut Özal, verärgert darüber, daß sein Erzfeind Demirel die Wahlen gewonnen hat, gießt dagegen Öl in den Polizeibrand. „Das Terrorgesetz muß noch verschärft werden“, sprach er unter dem Jubel der Polizisten auf der Beerdigung Günaydins.