SS-Kaserne: Abriß oder Baudenkmal?

Nach dem Abzug der US-Army will die Stadt Nürnberg eine ehemalige SS-Kaserne abreißen lassen/ Landesamt für Denkmalpflege sieht schutzwürdige Architektur/ 47 Jahre lang blieb die Vergangenheit des Gebäudes unbeachtet  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Noch weht die amerikanische Flagge vor den Merrell Barracks im Süden von Nürnberg, noch stehen die beiden US-Panzermodelle aus dem 2. Weltkrieg links und rechts der Toreinfahrt. Wenn am 15. Juli die US- Army abzieht, sollen auf dem Gelände nach dem Willen der Stadtverwaltung Wohnungen und ein Gewerbepark entstehen. Doch kaum will sich die Stadt Nürnberg aus ihrer Vergangenheit davonstehlen, wird sie wieder von ihr eingeholt. 47 Jahre lang hat sich niemand für die Vergangenheit des Kasernengebäude interessiert. Jetzt beabsichtigt zum Leidwesen der Stadtverwaltung das bayerische Landesamt für Denkmalpflege, die ehemalige SS-Kaserne als schutzwürdige „klassizisierende Architektur“ einzustufen.

Auch Robert Walker, der „Historian“ der Kaserne, fände es „sehr schade“, wenn die Kaserne abgerissen werden würde. „Es ist ein historisches Gebäude“, erklärt der Angehörige des 2. Panzeraufklärungsregiments, der hauptberuflich Offizier der US-Army zur „Vermeidung von Manöverschäden“ ist. Walker hat sich seit Jahren mit der Vergangenheit der Kaserne beschäftigt. Er kennt jeden Winkel des 18,5 Hektar großen Geländes, auf dem im Juni 1939 die SS-Nachrichtenschule nach 20monatiger Bauzeit als „Einfallstor zum Reichsparteitagsgelände“ eingeweiht worden war. Eine Funktion für die Reichsparteitage hatte die Kaserne nicht mehr. Der „Parteitag des Friedens“ Ende August 1939 wurde abgesagt, kurz darauf wurde Polen überfallen. Bis zu 2.000 SS-Männer waren in der SS-Schule untergebracht und wurden dort ausgebildet. Ob die Kaserne in Verbindung mit den nahen Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau gestanden hat, weiß niemand.

Hakenkreuze im Marmorfußboden

Noch heute zeugen viele Details von der Vergangenheit des Gebäudes, dessen Eingangstor von Adolf Hitler entworfen worden war. In die Wandvertäfelung des ehemaligen SS-Unteroffizierskasinos sind Eichenblätter eingebrannt, an den Decken sind Heldenszenen aus der Antike dargestellt. In diesem historischen Ambiente werden heute die Angehörigen der US-Army unterrichtet. „Man gewöhnt sich daran, außerdem ist das doch Kunst“, kommentiert Walker die Raumgestaltung. Stolz verweist er auf die bestens erhaltenen Hakenkreuzornamente im Marmorfußboden des einstigen Konferenzraumes der SS. Heute hält dort der Kasernenpfarrer die sonntäglichen Gottesdienste ab. In den früheren SS- Stallungen vergnügen sich die amerikanischen Unteroffiziere, die unterirdischen Schießbahnen blieben jedoch ungenutzt. Im einstigen SS-Offizierskasino, dem „Führerheim“, ist heute das Hauptquartier und der Traditionsraum des US-Regiments untergebracht, dessen Geschichte bis ins Jahr 1836 zurückreicht. Neben der Uniform eines SS- Oberstleutnants finden sich dort auch die jüngsten Beutestücke der US- Army: ein überdimensionales Verkehrsschild, das den Weg nach Bagdad/Basrah weist, sowie mehrere im Golfkrieg eroberte Kalashnikovs und russische Panzerfäuste.

1969 hatten die Amerikaner dem Nürnberger Stadtarchiv die Akten des „Zweckverbands Reichsparteitage Nürnberg“ übergeben, der im März 1935 vom Deutschen Reich, der NSDAP, der Stadt Nürnberg und dem Land Bayern zur Koordinierung des Baus des Reichsparteitagsgeländes gegründet worden war. Die Unterlagen über die SS-Kaserne blieben jedoch verschwunden. Die Stadt Nürnberg zeigte von Anfang an kein Interesse an der Vergangenheit des Gebäudekomplexes im Süden der Stadt. Schon im Dezember 1946 beschloß der Stadtrat, die Kaserne als künftigen Sitz der Stadtverwaltung zu verwenden, ungeachtet der Tatsache, daß die SS zehn Wochen zuvor von einem Internationalen Militärtribunal der Siegermächte als verbrecherische Organisation eingestuft worden war. Doch nicht nur der Stadt fehlte das Interesse. Es gibt bis heute keine einzige wissenschaftliche Arbeit über die Funktion dieser Kaserne und ihrer Insassen.

„Mich hat noch keiner gefragt“, wundert sich Walker und ist etwas traurig, daß er mit der Kaserne in naher Zukunft nichts mehr zu tun hat. „Was damit weiter geschieht, ist nicht mehr unser Bier“, kommentiert er die unterschiedlichen Pläne zur Nutzung des Geländes und der Gebäude, die eines gemeinsam haben: keine Aufarbeitung der Vergangenheit. Der Bund als Eigentümer des Geländes will dort eine Außenstelle des Bundesamtes für Asylbewerber errichten, die Stadt Nürnberg will Wohnungen bauen sowie Gewerbe ansiedeln, und der Freistaat Bayern will in der Kaserne eine „Jugendarrestanstalt“ unterbringen. Ein Vorschlag, der für die grüne Landtagsabgeordnete Sophie Rieger „von mangelnder historisch-politischer Sensibilität“ zeugt.

Der Vorstoß der bayerischen Denkmalschutzbehörde hat in Nürnberg wieder Diskussionen über den Umgang mit der Vergangenheit aufgewärmt. Für den Politikwissenschaftler Eckart Dietzfelbinger ist der Abrißvorschlag der Stadt ein Ausdruck der „langen Geschichte der Verdrängung in dieser Stadt“. Immer wieder hat es in Nürnberg Konzepte für das überdimensionale Reichsparteitagsgelände gegeben, zuletzt den religiös verklärten Entwurf der parteilosen Kulturreferentin Fohrbeck, die aus dem Ort der Täter einen „nationalen Ort der Besinnung“ machen wollte. Doch bis heute ist außer einer Dauerausstellung und mehreren Hinweistafeln kaum etwas geschehen.

Die Nürnberger Historikerin Erika Sanden, Mitglied einer Initiative, die schon 1987 für die NS-Kongreßhalle das Modell eines „verfallenden Mahnmals“ befürwortet hatte, will sich damit nicht zufriedengeben. Es müsse zusätzlich erkundet werden, warum es möglich war, daß die SS-Kaserne 47 Jahre totgeschwiegen werden konnte. Man könne den Bau jetzt nicht einfach als „beliebige, harmlose Immobilie“ behandeln, kritisiert sie Bund, Land und Stadt. Sie fordert eine sofortige Aufarbeitung der Geschichte der Kaserne und wendet sich entschieden dagegen, diese unter Denkmalschutz zu stellen. „Das wäre die totale Rehabilitierung der SS.“ Auch Sophie Rieger hat Angst, daß dann die Kaserne zum „neuen Wallfahrtsort für Rechtsradikale“ werden könnte. Nach Aufarbeitung der Geschichte und Dokumentation der Ergebnisse spreche ihrer Meinung nach nichts mehr gegen einen Abriß.

„Es wäre für die Stadt nicht zumutbar, wenn wir noch einen weiteren Riesenschinken als Denkmal haben sollten“, plädiert Nürnbergs SPD-Oberbürgermeister Schönlein aus ganz anderen Gründen für einen Abriß. Schönlein denkt zusammen mit seinem Baureferenten Anderle an die Nutzung des Geländes als Bauland und Gewerbegebiet. „Wir wissen von nichts“, zeigt sich Anderle denn auch überrascht über die Einstufung des Gebäudes als schützenswertes Baudenkmal. Wolfram Lübbeke, Hauptkonservator des Landesamtes für Denkmalpflege und zuständig für die Inventarisierung der Denkmäler, kann dieses Überraschtsein nicht nachvollziehen. 1989 war Lübbeke der erste, der auf die Vergangenheit als SS-Kaserne hingewiesen hatte. In einem Bericht des „Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz beim Bundesminister des Innern“ stellte er fest, daß das Kasernengebäude „inhaltlich aufs tiefste“ mit dem Reichsparteitagsgelände verbunden sei. Der Bau „repräsentiert die Macht der SS“ und verkörpere den „Staatsstil des 3. Reiches“. Die Kaserne sei ein Denkmal „mit allen Implikationen der Geschichte“. Dieser Aufsatz, so Lübbeke, war der Stadtverwaltung bekannt. Er selbst habe im gleichen Jahr auf einer Veranstaltung in Nürnberg auf die Schutzwürdigkeit der Kaserne hingewiesen — in Anwesenheit von Nürnbergs Wirtschaftsreferent Wilhelm Doni.