Bundesregierung am Rande der Legalität

■ Selbst innerhalb der Regierungskoalition gab es gestern harte Kontroversen über den gemeinsamen Asyl-Gesetzentwurf von Regierung und sozialdemokratischer Opposition. Justizminister Kinkel räumte ...

Bundesregierung am Rande der Legalität Selbst innerhalb der Regierungskoalition gab es gestern harte Kontroversen über den gemeinsamen Asyl-Gesetzentwurf von Regierung und sozialdemokratischer Opposition. Justizminister Kinkel räumte ein, der Entwurf bewege sich „am Rande des Vertretbaren“.

Der Bundestag debattierte gestern einen gemeinsamen Gesetzentwurf von Regierung und sozialdemokratischer Opposition, aber selbst innerhalb der Koalition gab es harte Kontroversen. Das Thema hieß also: Asyl. Die Neufassung des Asylverfahrensgesetzes, eingebracht in großer Koalition, aber keineswegs in vollständigem Einvernehmen von Union, FDP und SPD, soll nach dem Willen seiner Schöpfer die Asylverfahren bei „offenkundig aussichtslosen Fällen“ verkürzen und beschleunigen. Wie selbst Justizminister Klaus Kinkel einräumte, bewegt sich der Entwurf „am Rande des Vertretbaren“ und verursacht ihm „Unbehagen und Bauchschmerzen“. Die Alternativen der parlamentarischen Kritiker, das Einwanderungsgesetz vom Bündnis 90/ Grüne, das Konrad Weiß begründete, fanden gestern kaum Gehör.

Die SPD, die im Herbst letzten Jahres auf dem Höhepunkt einer hysterisierten „Asyldebatte“ darauf gedrängt hatte, eine gemeinsame Initiative mit der Regierung zu Wege zu bringen, zeigte sich in der gestrigen Debatte zwar in Einzelheiten unzufrieden. So fehlt ihr immer noch die Zusage, daß der Bund seine leergewordenen Kasernen kostenlos als Massenunterkünfte zur Verfügung stellt. Kritisiert wird von der Opposition auch, daß die Einheitlichkeit des Verfahrens „in einer Hand“, namentlich beim Bund, im Entwurf nicht realisiert worden ist. Im Ganzen aber stimmten Herta Däubler- Gmelin und ihre Parteifreunde zu, voll Stolz auf dieses Produkt der Gemeinsamkeit.

Wenn es allerdings noch eines Beweises bedurfte, daß die sozialdemokratische Hoffnung auf ein Ende der Diskussion um das Asylrecht getrogen hat, dann war es die gestrige Bundestagsdebatte. Denn das Thema war weniger die Asylverfahrensbeschleunigung, sondern der letzte Satz des Artikels 16 Grundgesetz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Burkhard Hirsch (FDP): „Wir wollen ihn nicht ändern. Es ist die Freiheitsstatue im Hafen unserer Verfassung.“ Der Chef der Koalitionspartei, Wolfgang Schäuble, hielt diametral dagegen. Gewandt an FDP und SPD wiederholte er das Credo der Union: „Die Grundgesetzänderung wird kommen, weil sie unweigerlich kommen muß.“

Die CDU/CSU-Fraktion nutzte die Debatte weidlich, um für ihren zwei Tage zuvor eingebrachten Vorstoß für eine Grundgesetzänderung unermüdlich und unerbittlich zu werben. Ceterum censeo — übrigens bin ich der Meinung, daß das Grundgesetz geändert werden muß, war die Standardfloskel aller Unionsredner, Innenminister Rudolf Seiters eingeschlossen. Johannes Gerster, stellvertretender Fraktions-Vize der Union: „Wer meint, mit der Beschleunigung des Asylverfahrens sei alles geregelt, bleibt auf einem Drittel des Weges stehen.“ Das zweite und dritte Element, um das „Asylrecht auf den Personenkreis zu beschränken, der tatsächlich politischer Verfolgung ausgesetzt ist“, heißen für Gerster und die Union: erstens „Ratifizierung von Schengen und Dublin“ und zweitens „Grundgesetzänderung“.

Die Argumentation der Unionschristen hat sich mit dieser Debatte endgültig auf die europäische Ebene verschoben. Was nicht heißen soll, daß die gewohnten Argumente fehlten, so der Verweis auf die „Angst der Bevölkerung“. Gerster: „Die Nichtlösung wird dazu führen, daß die Menschen in die radikalen Lager überlaufen.“

Wer das Grundrecht unverändert erhalten will, den verdächtigten die Unionsredner des „nationalen Alleingangs“ (Seiters) oder des „deutschen Sonderwegs“. Der Bundesinnenminister: „...Die gewaltigen Risiken, die diese Wanderungsbewegung nicht nur für unseren Wohlstand, sondern auch unmittelbar für Sicherheit und Frieden mit sich bringen, werden wir allein nicht bewältigen können, sondern nur in einer europäischen Dimension. Wenn wir uns in Kürze mit der Übereinkunft von Schengen und Dublin befassen, dann werden wir vor die Frage gestellt sein, ... ob wir aktiv beitragen wollen zu einer Harmonisierung des europäischen Asylrechts.“

Die sozialdemokratische Rechtsexpertin Herta Däubler-Gmelin, die das Grundrecht auf Asyl verteidigte, verwies darauf, daß Freizügigkeit nicht mehr nur in Westeuropa, sondern auch gegenüber den östlichen Nachbarn herrscht und jeder europäische Lösungsversuch diese Länder einbeziehen muß. „Sie übersehen die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa. Die meisten Flüchtlinge kommen über Österreich, Polen und die CSFR.“ Herta Däubler-Gmelin: „Die Zuwanderung ist nicht ein Problem deutscher Gesetze. Die Menschen rennen aus Jugoslawien weg, weil dort der Bürgerkrieg tobt.“ Der Maßstab für eine europäische Harmonisierung könne nicht allein der Artikel 16 des Grundgesetzes sein, sondern auch die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechtskonvention, die in der Bundesrepublik gelte und vielen Bleiberecht sichere, die kein Asylrecht erhielten.

Die Änderung des Grundgesetzes, so Justizminister Klaus Kinkel an die Union, „ist nicht der alles lösende Königsweg... und würde praktisch nichts bringen. Diese These stelle ich auf.“ Bisher, so Kinkel nicht sehr populär, habe hierzulande niemand ernsthaft teilen müssen, weder wegen der deutschen Einheit noch wegen der Flüchtlinge. Die Bundesrepublik bleibt für die Notstandsbewegungen aus aller Welt ein „attraktiver Magnet“. Den Flüchtlingen sind „wir nach der Genfer Konvention rechtsstaatliche Verfahren schuldig“.

Jedoch wiederholte Kinkel auch, was die FDP in den letzten Wochen bereits hatte durchblicken lassen: „Wenn wir eine europäische Harmoniesierung auf Grundlage der Genfer Konvention erreicht haben und sich dann herausstellt, daß das Grundgesetz geändert werden muß, dann ist die FDP bereit.“

Ähnlich argumentierte auch der sozialdemokratische Innenminister Nordrhein-Westfalens. Wenn die Bundesrepublik ihre Vorstellungen in die europäische Debatte genügend eingebracht habe, müßten möglicherweise Änderungen hingenommen werden. Wolfgang Schäuble spricht also nicht ganz ohne Grund so vom Artikel 16, als sei seine Änderung fast schon eine Tatsache. Tissy Bruns