Was heißt „Vertreibung“?

■ Erfolg für CSFR-Opposition bei der Interpretation des deutsch-tschechoslowakischen Vertragstexts

Prag (taz) — Seit Monaten versucht die tschechoslowakische Opposition, den deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag zu torpedieren — wenige Tage vor der Unterzeichnung hat sie einen ersten Erfolg erzielt. Das Außenministerium der CSFR und die Bundesregierung sind sich in der Interpretation des Begriffes „Vertreibung“ nicht einig. So vertritt Egon Lansky, Pressesprecher des tschechoslowakischen Außenministers Jiri Dienstbier, die Ansicht, daß diese Bezeichnung nur für die sogenannte „wilde“ Vertreibung der Sudetendeutschen in den ersten Monaten nach Ende des 2. Weltkrieges angewandt werden kann. Dagegen müsse das Vorgehen der tschechoslowakischen Regierung nach der Genehmigung durch die Alliierten als „legaler Akt“ angesehen und daher als „Aussiedlung“ bezeichnet werden. Ein Sprecher des deutschen Außenministeriums stellte dagegen fest, daß „Bonn keine zeitliche Begrenzung anerkenne“, der Terminus der „Vertreibung“ somit für den gesamten Zeitraum gelte.

Im Hintergrund dieser Auseinandersetzung steht eine Diskussion, die in der Tschechoslowakei seit mehr als 20 jahren geführt wird. Während in der offiziellen Literatur der Begriff der „Vertreibung“ stets als Propagandainstrument der „revanchistischen Deutschen“ dargestellt wurde, diskutierten oppositionelle Historiker seit dem Prager Frühling über die „moralische Verantwortung, die die Tschechen durch eine kollektive Aussiedlung aller Deutschen auf sich genommen haben“. Daß der Begriff der „Vertreibung“ — im Unterschied zu dem 1973 abgeschlossenen deutsch-tschechoslowakischen Vertrag — in der Präambel des Abkommens auftauchen kann, ist ein Ergebnis der Politik Vaclav Havels. Dieser hatte bereits kurz nach seiner Wahl zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten sein Bedauern über die bei der Vertreibung begangenen Verbrechen zum Ausdruck gebracht, Unterschiede zwischen einer „wilden“ und einer „legalen“ Vertreibung machte er nicht. Wie schwer es jedoch in der Tschechoslowakei auch weiterhin ist, von „Vertreibung“ zu sprechen, zeigt die Äußerung Lanskys. Wenige Monate vor den Parlamentswahlen ist er unter dem Druck der öffentlichen Diskussion bereit, diesen Begriff erneut einzugrenzen. Ein Mißerfolg für Vaclav Havel, ein Erfolg für die heutige tschechoslowakische Opposition. Sabine Herre