Wenn der Rücken schmerzt

■ Das ominöse Kürzel RSI macht seit einiger Zeit Schlagzeilen. Dahinter verbirgt sich eine neue Berufskrankheit, die in Australien entdeckt wurde. Welche Arbeitsbedingungen zur RSI führen, zeigt UWE OSTERHOLZ auf.

Das ominöse Kürzel RSI macht seit einiger Zeit Schlagzeilen. Dahinter verbirgt sich eine neue Berufskrankheit, die in Australien entdeckt wurde. Welche Arbeitsbedingungen zur RSI führen, zeigt UWE OSTERHOLZ auf.

D

er Rücken ist steif, die Schultern verspannt, Schmerzen strahlen bis in Arme und Beine aus. Fast jeder ist im Laufe seines Lebens von Rückenschmerzen geplagt. So jedenfalls lautet die alarmierende Nachricht der Medizinstatistiker. Studien haben ergeben, daß bis zum 70. Lebensjahr etwa 90 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal an Rückenschmerzen leiden. Nicht selten jedoch treten die Schmerzen immer wieder auf oder gehen gar nicht mehr weg: Der Rückenschmerz ist chronisch geworden.

„Verletzung durch immer wiederkehrende Überlastung“

Die Diagnose „Rückenschmerz“ gehört zu den häufigsten Erkrankungen einer Gruppe von Leiden, die in der Medizin seit einigen Jahren den etwas umständlichen Namen „muskulo-skeletale Erkrankungen“ tragen. Die Bezeichnung hat den älteren Begriff „rheumatischer Formenkreis“ abgelöst, da die mit dem Namen Rheuma eng verbundene Diagnose der chronischen Polyarthritis im Vergleich zum Rückenschmerz selten ist: Mediziner schätzen, daß etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung an ihr leiden.

Neben Schmerzen und anderen Beschwerden führen viele Diagnosen zu Funktionseinschränkungen. Alltägliche Verrichtungen wie das Treppensteigen werden zur Qual oder gänzlich unmöglich. Häufig besteht kaum eine Chance auf Heilung.

Daß es sich hierbei nicht um Einzelschicksale handelt, zeigen die Zahlen der Sozialversicherungen. Berücksichtigt man neben der Zahl die Dauer der Fälle, so führen muskulo- skeletale Erkrankungen bei den großen Krankenkassen die Arbeitsunfähigkeitsstatistik an. Nicht anders ist es bei den Rentenversicherern: Hier sind sie die Hauptursachen für Rehabilitationsmaßnahmen und Frühberentung.

Die sozialen Konsequenzen der Erkrankungen sind enorm. Das beweisen die Millionen verlorener Arbeitstage oder die verlorene Lebensqualität der Erkrankten. Welche Bedeutung kommt aber sozialen Ursachen, insbesondere der Arbeit, zu? Wir kennen zwar den Meniskusschaden der Fußballer, auch ist der Tennisellenbogen seit Boris Becker in aller Munde. Aber hier handelt es sich um Extreme — oder nicht? Zwei Nachrichten der letzten Zeit lassen aufhorchen. Zum einen die Schlagzeile, die in dem ominösen Kürzel „RSI“ die Berufskrankheit der Zukunft sah, und eine noch neuere Nachricht von Anfang Februar, daß Wirbelsäulenerkrankungen jetzt als Berufskrankheiten anerkannt werden können.

Diese Nachrichten bilden die vorläufigen Höhepunkte in einer langen Tradition von Auseinandersetzungen über den Stellenwert der beruflichen Arbeit für Erkrankungen der Knochen, Muskeln, Sehnen und Gelenke.

Angefangen hat es spätestens mit Ramazzini, einem italienischen Arzt, der gern als Gründervater der heutigen Arbeitsmedizin zitiert wird. Er schreibt um 1700 in seinem Werk De morbis artificum diatriba über Krankheiten der Hände und Arme in den Kontoren, die er dem dauernden Schreiben, dem ausschließlichen Sitzen und übermäßiger mentaler Belastung anlastet.

Am anderen Ende der Geschichte steht RSI, ein Kürzel für „repetition strain injury“, was soviel heißt wie Verletzung durch immer wiederkehrende Überlastung. Die ersten Anzeichen zeigen sich meist in Schmerzen und Ermüdung der Hände und Arme. In diesem Stadium lassen sich aber noch keine organischen Befunde erkennen. Dafür sind die Schmerzen reversibel. Das gilt oft nicht mehr für die letzte Stufe. Organische Befunde stellen sich ein, die Schmerzen sind stark und halten bei Ruhe an.

Die Risiken von Computertastaturen

Der Begriff RSI stammt aus Australien, in Japan heißt er OCD (ocupational servico brachial disorders) und in den USA CTD (comulative trauma disorders). Damit soll deutlich werden, daß es sich um arbeitsbezogene Syndrome handelt, die als Folge der Einführung moderner Technologie beziehungsweise Arbeitsorganisation in Industrie und Büros aufzufassen sind. Mit der technologischen Umwälzung von Produktion und Verwaltung fallen auch die ersten Berichte über die „neue“ Krankheit zeitlich zusammen. LochkartenstanzerInnen und Schreibkräfte gehören zu den Betroffenen. Auch bei anderen Beschäftigten, die an Tastaturen arbeiten, kommen die Syndrome häufig vor. In Australien machte sich eine regelrechte Epidemie breit. So stieg bei „Telecom Australia“ die Zahl der gemeldeten RSI-Fälle zwischen 1982 und 1985 von 209 auf 1.783.

Für RSI werden verschiedene Arbeitsbedingungen verantwortlich gemacht. Da sind zum einen die ergonomischen Gegebenheiten. Häufig sind Bildschirm und Tastatur, Stühle und Tische nicht so ausgelegt, daß an ihnen ohne Gefahr für die Gesundheit gearbeitet werden kann. So sollte der Bildschirm höhenverstellbar sein und geneigt werden können. Der Abstand zwischen Auge und Bildschirmmitte sollte 50 bis 70 Zentimeter betragen. Die mittlere Tastenreihe sollte weniger als drei Zentimeter über der Tischplatte, die Neigung der Tastatur nicht über 15 Grad liegen. Die beim Bedienen aufgewendete Kraft sollte zwischen 0.25 und 1.5 Newton betragen, also eine ziemlich geringe Kraftanstrengung. Der Tisch sollte zwischen 72 und 75 Zentimeter hoch sein. Der Beinraum sollte frei sein, die Beinraumhöhe mindestens 65 Zentimeter, ihre Breite 80 Zentimeter und die Tiefe 70 Zentimeter nicht unterschreiten. Der Arbeitsstuhl sollte kippsicher und höhenverstellbar sein. Er sollte Armstützen und eine verstellbare Rückenlehne haben. Außerdem sollten Beleghalter in angemessener Größe vorhanden sein und ungefähr im Abstand Auge zu Bildschirm aufgestellt werden können.

Das Bedienen von Tastaturen selbst bringt Risiken mit sich. Oft sind die Tätigkeiten monoton, erfordern aber eine hohe Konzentration und Arbeitsgeschwindigkeit. So ist die Anschlagrate von etwa 300 pro Minute bei herkömmlichen Schreibmaschinen auf 500 an Computertastaturen angestiegen. Dies führt direkt zu Ermüdungen der Muskeln und zu Sehnenschäden. Aber auch die psychischen Belastungen sind hoch. Das hängt zum einen mit der Monotonie zusammen; auf der anderen Seite mit dem Konflikt zwischen erforderlicher Konzentration und Lärm sowie Arbeitsunterbrechungen durch Telefonanrufe, Nachfragen von KollegInnen oder Funktionsstörungen des Systems.

Bildschirmarbeit: Vier Stunden und nicht mehr

Es gibt einige sinnvolle Vorschläge, wie diese Krankheiten verhindert werden können. Neben der Einhaltung der angeführten ergonomischen Prinzipien sollte die Tätigkeit am Bildschirm nicht länger als vier Stunden dauern. Es sollten individuelle Pausen möglich sein, und die Zahl der täglichen Anschläge sollte begrenzt sein.

Daß solche Maßnahmen wirksam sind, zeigen Studien aus dem In- und Ausland. Besonders eindrucksvoll ist das Ergebnis einer finnischen Untersuchung. Dort ist aufgrund von präventiven Maßnahmen die Häufigkeit von Nackenerkrankungen bei Datentypistinnen von 54 auf 16 Prozent zurückgegangen, während sie in einer Vergleichsgruppe im gleichen Zeitraum leicht zugenommen hat.

Die Diskussionen um RSI sollten nicht vergessen machen, daß auch der Rückenschmerz nichts an seiner Aktualität verloren hat. Zwar verbindet das Alltagsverständnis Beschwerden besonders im unteren Rückenbereich mit schwerer körperlicher Tätigkeit wie der Bauarbeit oder dem Lastentragen. Auch hat die Diskussion um die neuen Technologien den Anschein erweckt, daß schwere Arbeit heute kaum noch vorkommt. Aber erstens ist schwere körperliche Arbeit nicht verschwunden. In der Pflege alter, kranker und behinderter Menschen nimmt sie eher noch zu. Zweitens ist es nicht nur das schwere Heben und Tragen, das „auf die Knochen“ geht.

So stellt das ständige Sitzen eine erhebliche Belastung der Bandscheiben dar. Das Verharren in immer derselben Körperhaltung wird zusätzlich riskant, weil die Bandscheiben nur durch Haltungsänderungen die notwendige Nahrung bekommen.

Prävention richtet sich häufig auf die Gewichtsbegrenzung zu hebender Lasten. Doch bleibt dieser Ansatz unbefriedigend, da die Belastung nicht nur von dem Gewicht, sondern auch von der Häufigkeit des Hebens, der Dauer der Tätigkeit, der Handhabbarkeit der Last und anderen Faktoren abhängig ist. Das macht ganzheitliche Programme zur Prävention erforderlich. Neben ergonomische treten gleichberechtigt arbeitsorganisatorische und psychosoziale Maßnahmen.

Bisher sieht die Praxis so aus: In der Verwaltung und Produktion wird eine neue Technologie eingeführt. Nach einer gewissen Zeit mehren sich die Anzeichen gesundheitlicher Folgen dieser Technologie. Im nächsten Schritt wird mit großem Aufwand das Ausmaß der Schädigung gemessen, und zuletzt werden im günstigen Fall die negativen Auswirkungen korrigiert. Anstelle dieses „naturwüchsigen“ Prozesses muß bereits vor die Einführung neuer Technologie oder organisatorischer Konzepte die Beteiligung der betroffenen Anwender treten. Das muß schon in der Entwicklungs- und Gestaltungsphase passieren. Nur so kann dem Verschwenden menschlicher Gesundheit ein Riegel vorgeschoben werden.

Der Autor ist Soziologe im Institut für Medizin-Soziologie im Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf.