Schuld abtragen für die Erwachsenen

■ Mirko (7) und Malte (10) leiden an Allergien/ Der Körper ist voller Schorf, und beim Supermarkt werden sie behandelt wie Aussätzige/ Ob Klassenraum oder Sommerwiese — alles ist bedrohlich

Berlin. Sie müssen bezahlen. Den sorglosen Umgang der Erwachsenen mit der Umwelt gelten Mirko und Malte Bicker-Nowack ab — mit schlaflosen Nächten und Haut, die immer wieder juckt, aufbricht und näßt. Mirko (7 Jahre) und Malte (10) sind Allergiker. Ihre körpereigene Abwehr reagiert — im Gegensatz zu »gesunden« Kindern — übersensibel auf Schadstoffe, selbst beim Essen einer Mohrrübe sei es dazu gekommen, daß ein Kind rot und blau anlief, berichtet die Mutter Ute. Doch das Leiden ihrer Nachkommen gilt als individuelle Krankheit: Statt daß Gesetze die Luftverpestung und chemische Schädlingsbekämpfung verbieten, mußten sich die Jungs von Ärzten behandeln lassen und müssen sich mit ihrer Lebensweise auf die Überreaktionen ihrer Körper einrichten.

Mirko verzichtete die vergangenen Wochen wieder auf den Verzehr von Äpfeln, »weil mir von dem Obst schlecht wird«. Malte darf in den Schulpausen nicht richtig toben, weil er sonst Atemschwierigkeiten bekommt und in der folgenden Unterrichtsstunde halb einschläft. Letztes Jahr hat er ein Viertel der Schulzeit fehlen müssen, weil sein Klassenraum in der Karpfenteich-Grundschule in Lichterfelde mit krebserzeugenden Polychlorierten Biphenylen (PCB) belastet war. »Man wird schlapp und kriegt keine Luft mehr«, erzählt Mirko. Jetzt werden die Schulmöbel in einem Zelt abgespritzt. Mirko wundert sich, daß die Arbeiter keinen Mundschutz tragen.

Nicht jeder Erwachsene weiß, was PCB ist. Zweitklässler Mirko redet wie ein Chemiker darüber: »Das sind Wasserstoffatome mit Chlor.« Malte, vor Jahren saß er in demselben Klassenraum mit der vergifteten Innenluft, hält den hochtoxischen Stoff »für ziemlich gefährlich«. Aber nicht nur die von Menschenhand geschaffene Giftchemie ist für die beiden eine Bedrohung, selbst die Wiese im Schwarzwald wird zum Feind. Als Mirko im letzten Sommer durch das Gras lief, bekam er ein Kratzen in den Kniekehlen, rote Quaddeln übersäten die Beine, auf den Knien platzte eine Dreiviertel Stunde später die Haut auf und blutete. »Andere Urlaubsgäste glaubten, Mirko wäre hingefallen und habe sich verletzt«, erinnert sich seine 39jährige Mutter.

Die Krankheit brach bereits kurz nach der Geburt aus. Als Mirko zweieinhalb Monate alt war, gab es manche Nacht, da war sein ganzer Körper verletzt, morgens der Schlafanzug im Schorf der Wunden eingetrocknet. Die Mutter mußte Mirko in einem Kräuterbad baden, um den Stoff nach Einweichen vorsichtig von der Haut zu lösen. Malte hatte Pseudo-Krupp, nachts Erstickungsängste. Hilflose Ärzte wollten den Kindern Cortison verabreichen, »damit ich schlafen kann«. Wenn sie mit Mirko Einkaufen war, seien sie wie Aussätzige behandelt worden, im Wartezimmer des Kinderarztes setzten sich die Leute von ihnen weg.

Mirko macht sich Gedanken um die Umwelt. Er ist besorgt, daß das Ozonloch immer größer und die Sonne alles verwelken lassen wird. »Ich verstehe nicht, daß der Mensch so blöde ist, alles kaputt zu machen«, sagt er und hat sich vorgenommen, später statt eines Autos ein Fahrrad zu kaufen. Malte bemängelt, daß Politiker die Straßen wie Teppiche ausrollen.

Wenn sie zaubern könnten, würde Malte als erstes die Allergien abschaffen, dann ein paar Autos verschwinden und viele Bäume wachsen lassen. Mirko würde Häuser verkleinern, damit mehr Platz für Pflanzen wäre. Den Spruch von Greenpeace »Wenn der letzte Fisch geangelt, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Baum gefällt ist, werdet Ihr merken, daß man Geld nicht essen kann« sagt Mirko wie ein Weihnachtsgedicht auf. Er findet Greenpeace ganz toll: »Die fahren mit winzigen Booten vor riesige Tanker.« Auf die Idee, die Erwachsenen wegzuzaubern, kommen die beiden nicht, und selbst dafür, daß der taz-Reporter mit dem Auto statt mit Bus oder Bahn zu ihnen nach Hause gekommen ist, haben sie Verständnis: »Mit dem Beruf braucht man ein Auto.«

Ute Bicker-Nowack hat sich nach der Geburt des ersten Sohnes alleingelassen gefühlt: »Keiner wußte Bescheid.« Geholfen habe ihr Gisela Nickel von der Arbeitsgemeinschaft Allergiekrankes Kind, die hätte sie jederzeit anrufen können, mit Hilfe der AG konnte sie sich auch mit anderen Müttern allergiekranker Kinder austauschen. Für Bicker-Nowack hat sich das Leben durch die Leiden ihrer Jungs verändert. »Wir sind umweltbewußter geworden«, das gesamte Ernährungsverhalten hätten sie verändert. Die Mutter hatte ihr Studium der Landschaftsplanung schmeißen müssen, weil sie nächtelang nicht mehr zum Schlafen kam, aber die kranken Kinder niemanden geben konnte.

Inzwischen gibt die 39jährige Kurse über das Kochen mit Vollwertkost und hat mit Eltern und Lehrern an der Karpfenteich-Grundschule eine Arbeitsgruppe gebildet, die auf die PCB-Sanierung drängt.

Doch damit hören die Problem nicht auf. Die Grundschüler lernen zur Zeit Schwimmen im Bad einer amerikanischen Kaserne. Malte habe seitdem öfter Kopfschmerzen, einmal mußte sie ihn deshalb früher aus der Schule abholen. Die zuständige Schulärztin vermute, daß der Chloranteil im alliierten Bad zu hoch sei, doch die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes sei für die militärische Einrichtung nicht zuständig. Das Wasser wird nicht untersucht, statt dessen muß sich Maltes Mutter überlegen, ob sie ihren Sohn vom Schwimmunterricht befreien läßt. Dirk Wildt