„Die Kamera, das ist Scorsese“

■ Satelliten-Liveschaltung mit Martin Scorsese

Gespannte Nervosität im überfüllten Saal. Letzte Anweisungen: "Wenn Sie Scorsese fragen, schauen Sie in die Kamera vorne links. Die Kamera, das ist Scorsese." Keine Fotos. Bitte das Rauchen einstellen. Der Countdown läuft. 15.15 soll er erscheinen: Martin Scorsese live über Satellit in die Kongresshalle gebeamt. His Master's face ganz nah aufVideogroßprojektion. Aber nichts geschieht. Leitung zusammengebrochen. Geduld bitte. Minuten verstreichen. 15.37. Das Testbild verschwindet. Ein leerer Stuhl. Dann Scorsese himself. Er weiß nicht, daß er schon auf Sendung ist. Räkelt sich. Rückt seinen Gürtel zurecht. Schaut gelangweilt in die Kamera. Zieht Grimassen. Trommelt auf die Tischplatte. Eine Slapstick-Szene.

Dann wieder: Blackout. Die Cutterin Thelma Schoonmaker springt ein und beantwortet Fragen. Einer will wissen, wie es ist, wenn bei der Montage Filmszenen wegfallen. „Es tut weh, aber es ist mein Job.“ Schließlich steht die Leitung doch. Scorsese im New Yorker Studio, allein. Um ihn herum leere Stühle. Seine schmächtige Gestalt ist schlecht ausgeleuchtet, die Augen liegen im Dunkeln. Vor eineinhalb Jahren, auf der Pressekonferenz zu Good Fellasin Venedig, hatte er seine ganze Truppe um sich geschart. Robert de Niro, Schauspieler, Produzent, Filmcrew — sie hatten da gesessen wie eine ausgelassene Jungsbande, die gerade ihren neuesten Streich ausheckt. Scorsese grüßt Schoonmaker und den Kameramann in Berlin: „Enjoy it!“ Er wäre jetzt auch gerne da. Dann legt er los, schnell, konzentriert. Gibt Auskunft über die Entstehung des Films, das Experimentieren mit dem Thriller-Genre, über de Niros Muskeltraining, den Einfluß von Michael Powell und seine Liebe zum alten Hollywood. Zum ursprünglichen Script. Steven Spielberg sollte es verfilmen, aber mit einer glücklichen Familie. Das sei nichts für ihn gewesen. Die Verführungsszene zwischen Robert de Niro und Juliette Lewis sei ursprünglich nur ein Horrortrip gewesen: de Niro bedroht das Mädchen, jemand kommt und rettet sie. Sie fällt nicht in seine Arme. Er habe eine Verführung daraus gemacht, eine emotionale Vergewaltigung. Es war die erste Szene, an der sie arbeiteten.

Apropos Gewalt. In Schweden wurde die Szene, in der de Niro seinem ersten Opfer ein Stück Wange abbeißt, zensiert. Scorseseverteidigt die Gewalt. „Wir zeigen nur, was geschieht.“ Sogenannte sexuelle Nötigung. „Jeden Tag passiert es, überall. Man muß verstehen, was passiert, deshalb muß man wissen, wie es aussieht“. Die Gewalt gehe von Personen aus, nicht vom Film. Kino müsse riskant sein: das Risiko läge diesmal in der Mischung von Gewalt und Melodrama. Später bricht er für die Zensur eine Lanze: Sie zwinge ihn, noch einmal Rechenschaft abzulegen über das, was er gemacht hat. Aber natürlich müsse man gegen die Zensur kämpfen.

Er erzählt von seiner Kindheit, von der Gewalt in MeanStreets. Und erläutert die Szene, in der Nick Nolte seine blutigen Hände wäscht. „Keine Erlösung ohne Blut“, sagt er und nennt de Niro einen Teufel. Ob sein Film katholisch sei, will einer wissen. „Sehen Sie das so?“, fragt er zurück. Schießlich bekennt er doch: „Ich bin ein katholischer Filmemacher." Sein nächster Film wird eine New Yorker Liebesgeschichte aus dem 19.Jahrhundert. Gott sei ihm gnädig. Christiane Peitz