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Es grüßt die Menschheit

■ Zwei GUS-Filme im Wettbewerb

Beide Hauptdarsteller sind dick, bärtig und wortkarg. Der eine wohnt in der Stadt, fährt aufs Land, zu den Stätten seiner Kindheit, und erinnert sich. Der andere wohnt auf dem Land und geht in die Stadt, wo die Rotgardisten die Bauern erschießen. „Infinitas“ spielt heute, Rcheyli 1917. Aber es könnte auch umgekehrt sein. Denn die Filmemacher haben ein Höheres im Sinn als Zeitgeschichte.

Ein Huhn wird geköpft. Ein stummes Mädchen kann hexen. Ein Kalb wird geschlachtet. Das Blut spritzt in einer Fontäne aus dem Hals des Tiers. Massenerschiessungen. Die Körper werden in Massengräber geworfen, einige sind nackt, einige noch nicht tot. Eine Rotgardistin pißt in die Kirche. Ein Vater erschießt seinen Sohn, weil er einen Bauern denunziert hat. Man sieht die Szene aus der Ferne, Vater und Sohn auf dem Acker, im Gegenlicht. Keine Tragödie, sondern ein Opferritual. Danach stopft sich die Mutter Erde in den Mund.

Rcheyli, der Film des Georgiers Michail Kalatosischwili, erzählt einmal mehr von der sinnlosen Grausamkeit des Kriegs. Mein Problem dabei: die Gleichgültigkeit, mit der getötet wird, haftet auch den Bildern an. Sie zeigen den Zynismus nicht, sondern sind selbst zynisch. Bestenfalls überhöhen sie, mit religiöser Metaphorik oder symbolistischer Ästhetik — die Kritik am Revolutionspathos bleibt selbst pathetisch. Wir lernen: der Mensch ist des Menschen Wolf, das Leben ein Mysterium und die georgische Landschaft meist nebelverhangen. Aber das wußten wir schon.

Infinitas, dachte ich zunächst, ist anders. Genauer, selbstkritisch, das Pathos ironisch gebrochen. Ähnlich wie Das Thema von Gleb Panfilov, der auf der Berlinale 1987 den Goldenen Bären gewann. Darin sah man am Anfang die übliche romantische Schneelandschaft und hörte dazu Schuberts 'Winterreise'. Bis jemand sagt: Mach aus, ich kann es nicht mehr hören, und am Autoradio dreht. Solche Momente gibt es auch in Marlen Chuzievs russischem Film: Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit trifft der Held (dick, bärtig, wortkarg) auf sein jugendliches Alter Ego, und die beiden verlieben sich auf dem Tanzboden in dasselbe Mädchen. Der Alte tanzt mit ihr, dann fragt er sie nach einem Mittel gegen Haarausfall. „Abends einen sauren Hering essen“, sagt sie.

Aber ich fürchte, Chuziev meint es nicht ironisch. Die Komik sorgt nur für ein bißchen Abwechslung in einer ansonsten eintönigen Parabel über das Altwerden, die Einsamkeit, den Tod und das Ende. Paßt natürlich gut zum Ende der Sowjetunion.

Das Ärgerliche daran: Der Einzelne läuft immer nur symbolisch durchs Bild, seine Realität wird ignoriert. Schließlich geht es um die Menschheit, Menschen sind da von jeher störend. Auch eine Art Opferritual. Chp

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