Eine Amerikanerin in Berlin

An Tom Kalins „Swoon“ — dem Film, der in der Forum-Reihe der Berlinale wie auch beim amerikanischen Sundance-Festival viel Beachtung fand — erinnert viel von Todd Haynes' „Poison“. „Poison“, ein unabhängiger amerikanischer Film, der bei der letzten Berlinale viele Diskussionen auslöste, bediente sich erfolgreich einer Geschichte über Homosexualität, um schwule Geschichte und Lebensweise zu zeigen und zugleich allgemeinere Erscheinungsformen der Intoleranz zu beleuchten. „Swoon“ wiederholt diesen Erfolg — flüssiger als Haynes und weniger didaktisch.

Beide Filme bedienen sich der Filmkunst, um sich mit den Mythen zu beschäftigen, die sich die Gesellschaft selbst erzählt, wie auch mit der einlullenden Blindheit, die ihnen häufig zu eigen ist. Sie nutzen die Illusionen des Kinos, um die Täuschungen des Lebens zu kennzeichnen — eine Parallele, die wir auch von Woody Allen kennen. Aber natürlich konzentriert sich Allen auf den Trost, den uns Illusionen liefern, auf den Freiraum von der Realität, der uns Vergnügen und Hoffnung verschafft. (Man denke an das glückliche Ende in „Shadows and Fog“ oder in „Hannah und ihre Schwestern“: so unwahrscheinlich es ist, bereitet es doch Befriedigung. Man erinnere sich zudem an die selbstbewußte Verbeugung vor dem Kino in „Purple Rose of Cairo“ und „Crimes and Misdemeanors“.) Kalin und Haynes dagegen heben den Schaden hervor, den Illusionen anrichten können, insbesondere jene Illusionen, die wir Vorurteil oder Suche nach Sündenböcken nennen.

Zunächst einmal drehten Haynes und Kalin ihre Filme in einem chiaroscuro-Schwarz/weiß statt in realistischeren Farben, und dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit des Films und ist heute eine bewußte Entscheidung für das Gekünstelte. Haynes ließ in „Poison“ drei Genre-Filme wiederaufleben; Kalin macht aus dem seinen ein zeitgeschichtliches Dokument. Um das Publikum ständig an die Künstlichkeit von „Swoon“ zu erinnern, unterbricht Kalin seine Erzählung mit Brechtschen Einschüben: er führt ein paar komische Anachronismen in die Handlung ein, zum Beispiel ein Tastentelefon im Chicago der zwanziger Jahre, und schneidet Dokumentarmaterial aus dieser Zeit in die Handlung.

„Swoon“ ist eine Nacherzählung des berüchtigten Mordfalls Leopold und Loeb, der Mitte der zwanziger Jahre Amerika in Atem hielt, weil die beiden jüdischen Jungen aus gutem Hause keinerlei Motiv für die Ermordung und Verstümmelung eines achtjährigen Jungen zu haben schienen. In der ersten Hälfte des Films erforscht Kalin die emotionale Spannung in Leopold und Loebs angeblicher Sexualbeziehung und Loebs Dominanz- und Gewaltfantasien. Dieser bildete sich ein, seine willkürlichen Gewalttaten stünden wie die der antiken Pharaonen über dem Gesetz. In der zweiten Hälfte des Films, nach Erhebung der Anklage gegen die Jugendlichen, zeigt Kalin, wie das Gericht, die Presse und das psychiatrische Establishment den unerklärlichen Fall interpretierten. Bei Kalin zeigt sich die Öffentlichkeit von der Homosexualität stärker beeindruckt als von dem Mord. Die Profis — Anwälte, Kriminologen, Psychiater, Reporter — schnattern sämtlich eigene Erklärungen für die Tat und ihre Hintergründe daher. Was dem einen die Zirbeldrüse, ist dem anderen der Schädelumfang oder eine hormonelle Fehlentwicklung, eine verzögerte Ichbildung oder die Gottlosigkeit sexueller Perversionen. Kalin macht deutlich, wie selbstgenügsam diese Erklärungen sind: sie haben wenig zu tun mit den Besonderheiten sexueller Fantasien oder der Identitätsbildung, umso mehr dafür mit Bauchpinselei für die Mythen der professionellen Erklärer. Mithilfe solcher Mythen kann man sich überlegen und sicher fühlen, gegenüber „anderen“, Bösen — böse wegen ihrer Homosexualität, oder weil sie Juden sind, oder Söhne ihrer Väter, oder weil sie einen Hirnschaden haben — aber vor allem, weil sie anders sind.

Kalin bedarf dazu keiner politischen Plumpheit, sondern bewahrt ein Gefühl für die Geschichte und ihr Geheimnis. Die beste Leistung in „Swoon“ ist vielleicht die Kameraarbeit. Sie ist zugleich präzis und illusorisch, minimalistisch und in hohem Maße bewußt. Neben den oben erwähnten Hilfsmitteln der Künstlichkeit führt Kalin auch verführerische expressionistische Bilder ein — und noch verlockendere Toneffekte —, um den Fantasien der Jugendlichen Gestalt und eine Stimme zu geben. Später illuminiert er mittels ähnlicher Töne und Bilder ihre Sicht auf jene, die sich vor Gericht und im Gefängnis wichtigtuerisch um sie herum tummeln. Einige dieser expressionistischen Ausflüge sind allzu offensichtlich und vorhersehbar (schlimmer noch: sie wiederholen sich mehrfach). Andere jedoch schweben in traumhaften Räumen von schwarz oder weiß, mit großer Treue zu den Details der Geschichte und dennoch voller Überraschung und Magie.

Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning