ÄRGER IM PARADIES

■ Auf der Kanareninsel Gomera wird der Übergang vom alternativen zum harten Tourismus geprobt

Auf der Kanareninsel Gomera wird der Übergang vom alternativen zum harten Tourismus geprobt.

VONCHRISTELBURGHOFF

Wie lange ist es her — sind es erst zehn oder doch schon zwanzig Jahre, daß in südlichen Szenetreffs Aussteigerträume geträumt und eine paradiesische Zukunft ins Auge gefaßt wurde? Wann wurde Gomera „entdeckt“? Der Legende nach kam der erste Alternativtourist zufällig nach langen Wanderungen über Eselspfade ins Valle Gran Rey, und dann verbreiterte sich in den frühen Siebzigern die Kunde vom Geheimtip Valle Gran Rey rasant schnell. Etliche Gomera-Besucher stiegen tatsächlich aus und ließen sich auf der Insel nieder, andere kommen seit vielen Jahren regelmäßig wieder.

Heutige Gomera-Fans sammeln sich immer noch überwiegend im Valle Gran Rey. Wie eh und je pendeln sie zwischen den Bananenplantagen im Dreieck der Zentren La Calera, Playa und Vueltas hin und her und pflegen ihr touristisches Einmaleins von Strand, Kneipe und permanenter Konversation. Kommunikationsprobleme gibt es kaum, es sei denn, man spricht kein Deutsch. In den Kneipen dudeln die Ohrwürmer aus den siebziger Jahren. Zuweilen wird etwas Einheimisches gespielt wie die Gipsy Kings, die uns Deutschen auch vertraut sind.

Marias Strandbar ist immer noch die erste Adresse für das Sonnenuntergangsritual. Allabendlich sitzt man hier auf wackeligen Stühlen im Staub der Strandpromenade und paßt auf, wie die Sonne ins Wasser fällt. Neo-Hippies trommeln. Manchmal tummelt sich auch ein Schwarm Delphine im abendlichen grauen Meer. Und wenn sich dazu noch der Mond scharf am Himmel abzeichnet, formt sich die Szenerie zu einer zeitlosen, nostalgischen Idylle.

In dieser alternativtouristischen Konserve ließe es sich noch mindestens zwanzig Jahre lang so weiterdösen, gäbe es nicht Stoff für Unruhe. Intern mokiert sich eine neue Urlaubergeneration von aktiven Wanderfans über Vergreisungserscheinungen der sogenannten Szene, die selbst gestandene Gomera-Fans allmählich so fad finden „wie einen x-fach aufgebrühten Teebeutel“. Aber das ist das geringste Problem. Im Valle Gran Rey hat man selbst die vielen alleinreisenden deutschen Mütter mit ihren schwierigen Kleinkindern verkraftet, die vor einigen Jahren Gomera als Mütter-Überwinterungs-Insel in Verruf brachten.

Viel schwerer wiegt der Druck von außen auf das Urlaubsglück, machen die Pläne von Verwaltung und Bürgermeister Angst, das Valle Gran Rey nach modernsten touristischen Gesichtspunkten neu zu stylen und die großen Touristenzahlen auf die Insel zu holen. Im Tal geht die Sorge um Gomeras Zukunft um. Und je mehr der alternativtouristische Szenespuk an Substanz verliert, um so häufiger ist vom Flughafenbau bei Santiago die Rede, dem gefürchteten Einfalltor für einen Pauschaltourismus à la Teneriffa, der die kleine Insel mit Touristenscharen aus Manchester und Glasgow oder aus den deutschen Hinterlanden befrachten könnte. Das eherne Gesetz, wonach der Alternativtourismus immer wieder den Vorreiter für den Massentourismus gespielt hat — auf Gomera soll es neu bestätigt werden.

Widerstand der Einheimischen

Vom Bürgermeister des Valle Gran Rey ist ein beispielloser Wutanfall überliefert, als ihm die gomeranische Umweltschutzgruppe „Guarapo“ im November 1990 eine Protestliste mit 8.000 Unterschriften vorlegte und all den schönen Plänen von Hotelanlage, von einer durchgehenden Strandpromenade, vom Meerwasserpool samt künstlicher Insel, vom Straßenbau und der Flußbegradigung eine Absage erteilte.

Dabei stellte es sich heraus, daß fast die Hälfte aller Gomeros zu des Bürgermeisters Ausbauplänen mehr oder weniger auf Distanz gegangen war und sich keinesfalls einer touristischen Logik beugen wollte, Gomeras einzig schönes Tal, das sich für einen harten Tourismus eignet, auch touristisch zu verbauen. Auch gegen den Flughafenbau regte sich der einheimische Widerstand, obwohl die Piste in ihrer derzeitigen Dimensionierung, für Hubschrauber und kleine Maschinen, längst nicht die gefürchtete Schlüsselrolle für einen Massentourismus spielen wird.

Die Kritik entzündete sich an den prognostizierten Umweltschäden und — noch heftiger — an der einseitigen touristischen Verwendung jener Geldmittel, die Gomera derzeit aus den Töpfen der EG und aus Madrid für infrastrukturelle Maßnahmen zur Verfügung stehen. Die Umweltschützer um „Guarapo“ bemängelten, daß über zwei Drittel dieser Mittel „für strukturschwache Gebiete“ (insgesamt ca. 166 Millionen Mark) allein für den Flughafen und den Straßenbau verplant sind, für die Landwirtschaft dagegen nur schlappe 15 Prozent — was obendrein, wie die Kritiker betonen, ein „Etikettenschwindel“ sei, denn unter „Landwirtschaft“ werden beispielsweise auch die Geranienanpflanzungen an neuen Straßentrassen verbucht. Auf Maßnahmen, die die körperliche Schwerstarbeit in der Fischerei und die Quasi-Leibeigenschaft in der Plantagenwirtschaft abbauen könnten, warte man vergeblich.

Über den Höhenflug der „Urbanisatoren“ zum Jubeljahr '92 (mit der Weltausstellung in Sevilla, der Olympiade in Barcelona und der Jubiläumsfeier zur Entdeckung Amerikas) erbost, macht seither eine seltene Allianz von konservativen und progressiven Interessen gemeinsam mit den Stimmen der Touristen Front gegen die wenigen Profiteure der geplanten Entwicklung und mischt im Zukunftspoker mit. Im Dezember letzten Jahres schlossen sich die Umweltschutzgruppen aller Kanareninseln zu einem Verband zusammen. Den Flughafen, der bereits seit dem Sommer '91 offiziell im Bau ist, werden sie nicht mehr verhindern können, vielleicht aber den so offenkundig unsinnigen harten Tourismus der großen Nachbarinseln.

Gebremste Bauwut

Gomera hat erst in den letzten zwanzig Jahren per Elektrifizierung der Dörfer und Straßenbau den sogenannten Sprung in die Neuzeit gemacht. Aber während beispielsweise auf Teneriffa binnen weniger Jahre die Bettenburgen und die touristische Infrastruktur alle verträglichen Dimensionen gesprengt haben, blieb Gomera bescheiden. Der Tourismus war überschaubar und entwickelte sich uneinheitlich. Die Hauptstadt San Sebastián beherbergt eine der schönsten Hotelanlagen des europäischen Kontinents, einen Parador. Daneben gibt es jedoch nichts Vergleichbares. Das Gros der Touristen mietet sich in Privatunterkünften ein. Nur am Flughafenstandort Santiago wurde ein größerer Hotelkomplex gebaut. Mangels Nachfrage hält man sich mit weiterer touristischer Infrastruktur wie Golf- und Tennisplätzen vorerst zurück. Die Pauschal-Touristen vermissen das Wichtigste, nämlich paradiesische Strände und ein ansprechendes Ambiente. Selbst im Valle Gran Rey ist die Bauwut gebremst. Hohe Grundstückspreise und Bauauflagen, aber auch die verworrenen Eigentumsverhältnisse vieler in alle Welt verstreuter Erbengemeinschaften dämpfen die Expansionsfreude. Im Valle Gran Rey ist sogar ein einmaliger „Rückschritt“ zu verzeichnen: Nach heftigen Nachbarschaftsstreitereien und einem einschlägigen Gerichtsbeschluß kamen am Strand alle Café-Terrassen auf öffentlichem Gelände voerst unter den Bagger. Selbst die Terrasse von Marias legendärer Strandbar wurde abgerissen. Übrig blieben nur einige alte Klappstühle und Tische.

Die Einfallschneise für den Tourismus à la Teneriffa ist die südliche Höhenstraße. Mit ihrem Bau hat sich Gomera eine Vorzeigeroute für den Tagestourismus der Nachbarinseln zugelegt. Die „Carretera del Sur“ führt hoch durchs Gebirge und durchquert den Nationalpark „Garajonay“. An allen Aussichtspunkten, an denen die Bergschluchten tief genug sind, um die Ausflügler erschauern zu lassen, und die Felsen schroff und mystisch genug, um das Staunen noch hochzutreiben, drängen sich tagaus und tagein die knipsenden Touristen.

Die Gomeros selbst haben von diesem Ausflugstourismus herzlich wenig Gewinn, denn Touristen reisen abends mit der Fähre wieder ab. Aber das Gebirge hat Zukunft und ist überdies ein gewichtiges Argument der Umweltschützer gegen einen harten Tourismus: Der Lorbeer- Mischwald, der das Gebirge bedeckt, wurde dem Schutz der Unesco unterstellt und zum „Erbe der Menschheit“ erklärt. Auch die Wanderfreunde haben das Gebirge mit seinem Urwald längst entdeckt.

Im Zeichen der Umweltzerstörung könnte die Leidenschaft für Bäume der ausgedienten Aussteigerinsel Gomera flugs einen substantiell neuen Sinn verleihen, und zwar als Hort vorzeitlicher Natur. Schon zeichnet sich in deutschen Reiseberichten eine Themenverschiebung ab, die vom gern bemühten „Freaktreff Gomera“ auf den „Märchenwald“ umgeschwenkt ist und mit Schilderungen von „schlangengleichen Bäumen“ und „würgenden Flechten“, vom „unheimlichen Zauberwald“ mit seinen „uralten mächtigen Lorbeerbäumen“ (FAZ) einem neuen Mystifizierungsbedürfnis entgegenkommt.

Gomera könnte, statt in eine moderne Touristenhochburg umgebaut zu werden, auch den gleitenden Übergang von einer alternativtouristischen Konserve in eine Naturkonserve bewerkstelligen.