TEA AND SUGAR

■ Eine willkommene Abwechslung ist der Supermarkt auf Rädern für die Menschen im abgelegensten Teil Australiens. Eine Zugreise durch die Einsamkeit

Eine willkommene Abwechslung ist der Supermarkt auf Rädern für die Menschen im abgelegensten Teil Australiens.

Eine Zugreise durch die Einsamkeit.

VONELKEHOPPE

Es ist kurz vor Mitternacht: Noch immer zeigt das Thermometer fast 30 Grad Celsius in dieser sternenklaren Sommernacht im Februar. Ein paar einsame Straßenlaternen beleuchten die ausgestorbenen Straßen von Port Augusta, einer Kleinstadt in Südaustralien.

Im „Spencer Junction“-Güterbahnhof herrscht noch reger Betrieb. Hier werden die letzten Waggons an den TEA and SUGAR gehängt, einen Versorgungszug, der einmal in der Woche von Port Augusta aus den australischen Kontinent in westlicher Richtung bis zur alten Goldgräberstadt Kalgoorlie durchquert.

Für seine 1.689 Kilometer lange Fahrt auf einer Teilstrecke der Transkontinentalen Eisenbahn braucht der Zug drei Tage. Er versorgt Gleisarbeiter und deren Familien, die entlang dieser Strecke wohnen, mit den Dingen des täglichen Lebens. In dieser Dienstagnacht beginnt der TEA and SUGAR seine Fahrt mit sechzig Waggons und einer Gesamtlänge von 1.266 Metern. Außer einem rollenden Supermarkt, einem Kühlwagen und Schlafwagen für die sechsköpfige Besatzung transportiert der Zug auch Wasser- und Dieseltanks, Baumaschinen, Ersatzteile, Schotter und Eisenbahnschwellen.

Endlich ist es soweit! Um 2 Uhr morgens verläßt der SUGAR Port Augusta. Bei Sonnenaufgang erreicht er seinen ersten Stop, Pimba. Nach dreistündigen Rangierarbeiten geht es mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern weiter, nach Kingoonya. Dieser Ort hat neun Einwohner. Ein halbverfallenes Roadhouse zeugt von besseren Zeiten. Als der Zug einfährt, schaukelt ein verbeultes Auto die staubige Straße auf ihn zu. Seine Fahrerin, Beryl Collins, wohnt seit 28 Jahren in dieser Gegend. Der TEA and SUGAR ist ihr Supermarkt, der einmal in der Woche bis vor ihre Haustür kommt. „Ich habe 23 Jahre als Köchin in verschiedenen Camps entlang der Eisenbahnlinie gearbeitet und liebe das Leben hier draußen“, erzählt sie vergnügt.

Weiter geht die Fahrt durch die karge, rote Landschaft. Die gesamte Strecke der Transkontinentalen Eisenbahn erstreckt sich über 2.661 Kilometer zwischen Adelaide und Perth. Im Jahre 1912 begannen die Bauarbeiten. Insgesamt 3.500 Männer, unter ihnen viele Einwanderer, arbeiteten acht Stunden täglich für einen Stundenlohn von damals einem Shilling. Der größte Teil der Arbeit wurde mit Schaufeln verrichtet. Einhundertsiebzig Kamele setzte man als Last- und Arbeitstiere ein. Am 17. Januar 1917 war die Strecke fertiggestellt, fünf Tage später verließ der erste Passagierzug Port Augusta. Die notwendige Wartung der Gleisstrecke bedeutete, daß Gleisarbeiter entlang der Gleise arbeiten und somit auch leben mußten, was in dieser Region Australiens ein Leben unter extremer Hitze und Isolation bedeutet. Nach der Eröffnung der Eisenbahnlinie wurden deshalb viele Gleisarbeitercamps in feste Siedlungen umgewandelt. Von den ehemals 52 Siedlungen existieren heute nur noch neun. Für die Versorgung der dort lebenden Menschen mußte die Eisenbahngesellschaft einen regelmäßigen Service einrichten, einen Zug, der Lebensmittel und Wasser transportiert. Die, die auf seine Ankunft angewiesen waren, nannten ihn bald liebevoll TEA and SUGAR.

„Der Zug ist unser Lebensnerv“

Tarcoola. Hier, 412 Kilometer von Port Augusta entfernt, wohnen immerhin 120 Menschen. Die Fertighäuser aus Holz gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie unterscheiden sich nur durch die individuelle Gestaltung ihrer Veranden. Es gibt ein Krankenhaus, eine Kneipe und — kaum zu glauben — einen Golfplatz, natürlich auf rotem Sand. In der Schule werden 45 Kinder von 4 Lehrerinnen unterrichtet. Die Kneipe im Wilgena Hotel ist der soziale Treffpunkt für die EinwohnerInnen Tarcoolas. Wendy, die Wirtin, kennt sie alle, die Sorgen und Nöte ihrer Gäste. Ein neues Gesicht ist immer willkommen. Über Nacht steht der SUGAR auf einem Abstellgleis neben der eingleisigen Hauptstrecke. Bei Tagesanbruch geht es weiter. Um 6 Uhr morgens erreicht er Barton. Neun Erwachsene und zwei Kinder wohnen hier. Als der Zug einfährt, stehen schon die Jeeps an den Gleisen, mit denen die Einkäufe zum Haus transportiert werden. Die Fahrerinnen stürmen den Supermarkt auf Rädern. „Der Zug ist unser Lebensnerv“, sagt die junge Frau, deren Mann gerade zur Arbeit gefahren ist und die ihr zweites Kind erwartet. „Wir leben hier, um in ein paar Jahren einen Neuanfang zu machen. Für uns ist dieses Leben die einzige Möglichkeit, Geld zu sparen. Wenn meine Kinder zur Schule kommen, möchte ich wieder in der Stadt leben“, erzählt sie, während sie die Einkäufe in grüne Plastiktaschen stopft.

Zwischen den geparkten Autos steht die Schubkarre von Ziggy. Ein paar hundert Meter von der Siedlung entfernt hat er sich eine Behausung gebaut, die „das Fort“ genannt wird. Die aus Eisenbahnschwellen und Wellblech gebaute Unterkunft, die von einem ebensolchen Zaun umgeben ist, wirkt in der Tat wie eine Festung. Jede Woche kommt Ziggy mit seiner Schubkarre zum Zug, um die notwendigen Lebensmittel für sich und seine Hunde einzukaufen. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist ein batteriebetriebenes Radio. Strom und fließend Wasser hat er nicht. Als junger Mann wanderte er aus Polen ein und arbeitete und lebte als Gleisarbeiter entlang der Linie. Seit seiner Pensionierung vor acht Jahren lebt er in Barton. „Meine Hunde“, sagt er nachdenklich und rückt seinen Schlapphut zurecht, „sind meine Kinder.“ Seine Rente reicht gerade, um sich und die Hunde zu ernähren. Der Schädel seines Lieblingshundes, der durch einen Schlangenbiß getötet wurde, liegt auf einem Brett neben dem Radio. „Ich habe Frieden gesucht und ihn hier gefunden“, lächelt er und tätschelt Muschka, die hechelnd neben ihm steht.

Mittlerweile steht die Sonne hoch am Himmel. Am Mittag hat die Temperatur die 40-Grad-Grenze überschritten. Immer weniger Eukalyptusbäume bringen Abwechslung in die karge Landschaft. Keilschwanzadler kreisen majestätisch in der Luft, ein einsamer Emu steht zwischen verdorrten Grasbüscheln. Zugführer Gary erzählt von Japanern, die entlang der Gleisstrecke mit dem Fahrrad durch die Nullarbor-Ebene (lat. null arbor = kein Baum) fahren. Er lacht und macht eine eindeutige Handbewegung zum Kopf.

478 Kilometer immer geradeaus

In Bates hält der Zug, um den entgegenkommenden Indian-Pacific, der aus Perth kommt, durchzulassen. Der verlassene Ort wurde nach Daisy Bates (1863-1951) benannt, einer gebürtigen Irin, die dreißigjährig als Journalistin nach Australien kam. Die Kultur der australischen Ureinwohner faszinierte sie so sehr, daß sie beschloß, mit ihnen zu leben. Vierzig Jahre verbrachte sie mit Aborigines, die sie Kabbarlie nannten, was so viel heißt wie Großmutter.

Ooldea heißt in der Sprache der Aborigines „Platz, an dem es Wasser gibt“. Dieser ebenfalls verlassene Ort liegt an der Grenze der Nullarbor-Ebene. In diesem Gebiet fallen jährlich nur 250 Millimeter Niederschlag, die Vegetation besteht aus den kaum wadenhohen Salt Bush und Blue Bush. Die Nullarbor erstreckt sich über 600 Kilometer und ist eine der einsamsten Gegenden der Welt. „Was mich jedesmal wieder fasziniert“, sagt Lokführer Bill Harp, „ist der plötzliche Übergang von einer hügeligen Landschaft mit Bäumen in diese total flache Ebene.“ 478 Kilometer schnurgerader Eisenbahnstrecke liegen vor dem SUGAR: die längste gerade Eisenbahnstrecke der Welt!

„Ich hasse die verdammte Stadt“

In Watson arbeitet ein Gleisarbeitertrupp aus dreißig Männern daran, die Eisenbahnschwellen aus hartem Jarrah-Holz durch Betonschwellen zu ersetzen. Ersatzteile, Baugeräte und Betonschwellen werden abgeladen, Waggons rangiert. Die Gleisarbeiter wohnen in mobilen Wohncontainern, drei Männer pro Einheit. An diesem Tag haben einige von ihnen einen freien Tag, den sie in der Bar verbringen, die ebenfalls in einem Container untergebracht ist. Ohrenbetäubende Musik und dichter Zigarettenqualm füllen den Raum. Was sie am meisten vermißten? Frauen natürlich, ist die übereinstimmende Antwort. Die Männer arbeiten 21 Tage und haben dann eine Woche frei. Viele von ihnen bleiben auch während dieser Zeit im Camp. Sie sind alleinstehend, dies ist ihr Zuhause. „Wenn ich in die Stadt fahre, gebe ich 1.000 bis 2.000 Dollar aus. Hinterher frage ich mich, warum ich das getan habe“, erzählt ein Mittdreißiger mit Tätowierungen bis an die Handgelenke. Manche bleiben eine Woche, andere Jahre. Dutchie ist seit sieben Jahren Koch in diesem Trupp. Warum er hier lebt? „Ich hasse die verdammte Stadt, hier kann ich tun und lassen, was ich will.“

Nicht weit entfernt von Watson liegt Maralinga. Dieses Gebiet wurde 1956 und 1957 durch Atombombenversuche der Engländer verseucht. Noch heute ist die Gegend weiträumig abgesperrt und wird von Wachmännern patrouilliert.

Am Donnerstag erreicht der Zug mit mehrstündiger Verspätung Cook. Einen genauen Fahrplan gibt es für den SUGAR nicht. 822 Kilometer hat er bis hierher zurückgelegt, die Hälfte der Strecke. Die Crew wechselt, ab hier arbeiten die westaustralischen Kollegen. In Cook leben etwa 130 Menschen. Auch dieser Ort hat ein Krankenhaus mit sechs Betten, eine Schule und ein Lebensmittelgeschäft, dessen Regale nach Ankunft des Zuges wieder aufgefüllt werden. Die Diesellok wird aufgetankt. Bevor die Fahrt weitergeht, werden die Uhren um drei Stunden auf westaustralische Zeit vorgestellt.

Mit einer Geschwindigkeit zwischen 25 und 60 Kilometern pro Stunde geht die Fahrt über die Nullarbor weiter. Im Morgengrauen passiert der SUGAR den Kilometerstein 1051. „Willkommen in Westaustralien“ steht auf einem Metallschild. Ein paar Känguruhs sitzen auf ihren großen Hinterläufen und beäugen den vorbeifahrenden Zug aus sicherer Entferung. Um 10 Uhr hält der Zug in Forrest, das nach einem früheren Premierminister Westaustraliens benannt ist. Hier gibt es eine Niederlassung der Flying Doctors. Einen Steinwurf von den Schienen entfernt stehen Klettergerüste. Drei Ehepaare mit sechs Kindern leben auf der einen Seite der Gleise. Auf der anderen Seite ist eine Wetterstation. Dort wohnen drei Ehepaare.

Zucker, Kaffee, Kassetten im Angebot

Sobald der Zug hält, herrscht reges Treiben im „rollenden Supermarkt“. Wie in anderen Supermärkten gibt es auch hier jede Woche Sonderangebote. In dieser Woche sind es Zucker, Kaffee und Musikkassetten. Bis 1982 fuhr ein Schlachter im Zug mit, der vor Ort schlachtete. Heute kommt das Fleisch in den großen Gefrierschränken an Bord des SUGAR. Der Supermarkt auf Rädern gleicht einem Krämerladen. Von Shampoo über Filme, Süßigkeiten und Fertigsuppen gibt es einfach alles. „Und was es nicht gibt, braucht man auch nicht“, versichert Erina. Für Emma, ihre dreijährige Tochter, symbolisiert der SUGAR seinen Namen. Sie ist schon einen Tag vor seiner Ankunft so aufgeregt wie andere Kinder vor Weihnachten. Mit zwei Dollar, die sie krampfhaft in ihrer kleinen Hand umklammert hält, steht sie an der Kasse, um ihre Kaugummis und den Schokoriegel zu bezahlen. Karen arbeitet seit vierzehn Monaten auf der Wetterstation. „Besonders wenn man Konflikte hat, ist das Leben hier draußen sehr schwer. Es gibt einfach kein Entrinnen.“ Dem Bedürfnis, sich einmal richtig auszusprechen, kann nur einmal im Monat entsprochen werden. Dann reisen die Teams von RICE und TRACS mit, staatlichen Organisationen, die sich um die Belange der Menschen in den isolierten Regionen Australiens kümmern. Die Kinder können dann in einem speziell ausgestatteten Waggon ein paar Stunden unter Aufsicht spielen und basteln, während eine Sozialarbeiterin bei einer Tasse Kaffee ein offenes Ohr für die Probleme der Mütter hat.

Immerhin jede zweite Woche begleitet ein Zahlmeister den Zug, um die Gehälter auszuzahlen. Weitaus seltener, nämlich nur einmal im Jahr, läßt sich der Weihnachtsmann blicken. Seit dreißig Jahren fährt der mittlerweile pensionierte Lokführer Alf Harris in der Woche vor Weihnachten mit, um die Kinder zu bescheren. Als Weihnachtsmann verkleidet, mit Sonnenbrille und Schweißperlen auf der Stirn, entsteigt er seinem „Schlitten“, beobachtet von den erwartungsvoll auf ihn gerichteten Augenpaaren der Kinderschar, für die dieses Ereignis zweifelsohne der Höhepunkt des Jahres ist.

Das Camp hundert Kilometer weiter wurde vor einer Woche geschlossen. Die leerstehenden Häuser werden irgendwann angezündet, es lohnt sich nicht, sie abzubauen. Wieder muß auf einen entgegenkommenden Zug gewartet werden, und erst spät am Abend zieht die Lok die etwa fünfzig verbliebenen Waggons nach Rawlina. Hier weht ein kühler Wind, der „der Doktor“ genannt wird, weil er die drückende Hitze vertreibt. Die Lokführer beenden ihre Schicht, der Zug bleibt über Nacht wieder auf einem Nebengleis stehen.

„Wir lieben das Leben hier draußen“

Zanthus ist die letzte Station, die der TEA and SUGAR auf seiner Fahrt am nächsten Tag passiert. Kaum hat er angehalten, sind Debbie und Shirley mit ihren Einkaufslisten im Supermarkt. Beide Frauen sind verärgert über die vielen Vorurteile den Menschen gegenüber, die entlang der Eisenbahnstrecke wohnen. „Wir lieben das Leben hier draußen und sind weder einfältig noch schmutzig oder kriminell“, meint Shirley, die vor über dreißig Jahren aus England eingewandert ist. Begeistert schildern beide Frauen die Gewitter, leider meist ohne Regen, und die herrlichen Farbspiele der Sonnenuntergänge. Nein, in der Stadt könnten sie nicht mehr leben, äußern sie übereinstimmend. „Es ist ein ruhiges und erfülltes Leben, das wir hier draußen führen.“ Wenn Shirley einmal in die Stadt muß, freut sie sich schon vor ihrer Abfahrt auf ihre Rückkehr.

Freitag abend, nach 1.689 Kilometern, für die der Zug drei Tage und Nächte brauchte, endet die Fahrt des legendären TEA and SUGAR in Kalgoorlie. Die müde Crew macht sich auf den Heimweg. Schon ein paar Stunden später fährt der SUGAR mit neuer Besatzung zurück nach Port Augusta. Auf seiner Rückfahrt heißt er der „Bomber“, weil er diesmal nicht hält.

In der darauffolgenden Nacht von Dienstag auf Mittwoch startet er dann wieder als TEA and SUGAR, um die zu versorgen, die sehnsüchtig auf seine Ankunft warten.