Bündnis 90 für rückhaltlose Stasi-Aufklärung

■ Ziel der Aufarbeitung muß die Offenlegung der Strukturen sein, nicht die bloße Enttarnung Inoffizieller Mitarbeiter/ Gesetzliche Regelungen für die Stasi-Akten muß voll ausgeschöpft werden/ SPD-Vize Thierse fordert von Medien „Mut zur Differenzierung“

Bonn (taz) — Das Bündnis 90/Die Grünen haben gestern die derzeitige Stasi-Diskussion als verkürzt bezeichnet. In Bonn lehnten die drei Bundestagsabgeordneten Köppe, Poppe und Ullmann zugleich eine Novellierung des Stasi-Unterlagen- Gesetzes oder gar ein Ende der Akteneinsicht ab. Sie bekräftigten die bereits vom Runden Tisch in Ost- Berlin noch vor der deutschen Vereinigung erhobenen Forderungen nach rückhaltloser Offenlegung der Stasi- Struktur, nach Öffnung sämtlicher MfS-Unterlagen für die Opfer sowie nach Resozialisierungsangeboten für ehemalige Stasi-Mitarbeiter. Ziel der Aufarbeitung dürfe nicht nur die Enttarnung früherer Stasi-Mitarbeiter sein, offengelegt werden müsse auch die Verflechtung von Stasi und SED. Statt einer Novellierung solle das Stasi-Unterlagen-Gesetz „voll ausgeschöpft“ und durch eine Benutzerordnung „ergänzt werden“, erklärte Köppe. Durch eine Personalaufstockung müsse die Gauck-Behörde in die Lage versetzt werden, die „Flut von Anfragen in angemessener Zeit“ zu bearbeiten.

Zur Glaubwürdigkeit der Stasi- Unterlagen betonte Poppe, sie beschrieben zwar „nicht die Wahrheit“, seien aber „auch nicht gefälscht“. Es handele sich um einen „Wust von angesammelten, schwer anzweifelbaren Daten und Fakten“, deren vollständige Offenlegung zur Aufklärung der DDR-Vergangenheit notwendig sei. Die im Zusammenhang mit der Diskussion um Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe von dessen Justizminister Bräutigam aufgestellte Behauptung, wonach etwa zehn Prozent der in Stasi-Akten als Informelle Mitarbeiter geführten Personen nichts von ihrer Registrierung gewußt hätten, bezeichnen Bündnis 90/Die Grünen als „aus der Luft gegriffen, töricht und schädlich“. Anderslautende Erklärungen „auch von als IM registrierten Prominenten“ müßten „bis zum Beweis des Gegenteils in Zweifel gezogen werden“. Die von Stolpe gespielte Rolle sei möglicherweise ein „Grenzfall“.

Der Deutsche Journalisten-Verband hat sich der Kritik von Bundespräsident Richard von Weizsäcker an der Stasi-Aufarbeitung in den Medien angeschlossen. Der Vorsitzende Hermann Meyn erklärte, wenn die Presse hemmungslos Stasi- Unterlagen ohne Erläuterung der Zusammenhänge abdrucke, nutze sie ihre Freiheit nicht verantwortungsvoll. Jounalisten müßten wissen, daß das Wort Stasi ein „politisch-publizistisches Totschlag-Argument“ sei. Auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse warnte vor einer „Vermarktung der DDR-Geschichte zu Skandalgeschichten“. Er forderte die Medien auf, „Mut zum Differenzieren“ zu zeigen. Das Urteil über das gescheiterte System dürfe nicht zu einem Urteil über die Menschen werden, die darin lebten.

In der Bonner Regierung herrscht offenbar erhebliche Verstimmung über die Äußerungen des Bundesbeauftragten Gauck zur Bewertung von Stasi-Akten. „Gerade in diesem Bereich sollte man sich zurückhalten, lieber zuwenig als zuviel sagen“, hätte es in Regierungskreisen geheißen. Die „absolute persönliche Integrität“ des früheren Bürgerrechtlers Gauck werde dabei nicht in Frage gestellt. Auch das Stasi-Unterlagen- Gesetz solle vorerst nicht geändert werden. azu