Eine Amerikanerin in Berlin

Wenn ein Penner wie Stanley Kowalski zum romantischen Helden taugt, warum dann nicht auch ein verdreckter Obdachloser? Das hat sich Leos Carax in „Les Amants du Pont-Neuf“ vorgenommen, und es gelingt ihm in großem Stil. Seine Fortschritte als Regisseur seit „Mauvais Sang“ (1987) sind offensichtlich: dieser Film — oder jedenfalls die beiden ersten Drittel — vibriert voll straffer Kontrolle und geschickt eingesetzten Kamerafahrten.

Carax' Arbeit steht im Gefolge des Bohéme-Kinos, das in Frankreich mit der Nouvelle Vague aufkam, aber der Ton ist grimmiger, wie schon mehrfach in französischen Filmen seit Agnes Vardas „Vogelfrei“; die Haltung zur Welt ist zynischer. Der Held von „Pont Neuf“ ist kein Rebell oder modischer drop-out, wie es für die Filme der Nouvelle Vague typisch war. Alex (Denis Lavant) ist alkohol- und drogensüchtig; an ihm gefällt nicht viel außer einem Flair für Akrobatik. Er verführt kein Bürgerkind, wie es ebenfalls für die Nouvelle Vague typisch war: Michele (Juliette Binoche) ist schon im Abgleiten. Sie ist eine erblindende Malerin, die lieber erfrieren würde, ein bißchen wie Vardas Heldin in „Vogelfrei“. Die Liebe der beiden vermag zwar die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, aber sie bleiben nicht in romantischem Trotz gegen die Mittelklasse auf der Straße. Insgesamt ist der böser- Junge-gegen-das-Establishment-Kick in diesem Film nicht so ausgeprägt wie in der Nouvelle Vague — vielleicht vor allem, weil Lavant zwar ein guter Schauspieler ist, aber kein Belmondo.

Trotz dieser Unterschiede teilt „Pont-Neuf“ mit seinen Nouvelle- Vague-Vorläufern die Vorliebe für Spaß und Herzensdinge. Auch andere französische Filme haben sich neuerdings in einer Mischung aus Blödelei und dreckigem Zynismus versucht: „Un Monde sans Pitié“ ist ein neueres Beispiel. Aber nur wenigen gelingt das mit so viel Esprit wie Carax. Am Bastille-Tag tanzen die Liebenden in einem Traumland aus Feuerwerk auf dem Pont-Neuf, der ältesten Brücke von Paris. Mit einem gestohlenen Motorboot fahren sie auf der Seine Wasserski, und jeder Wasserspritzer, milde glänzend, stellt die üblichen Wasserszenen in Dutzenden von Filmen in den Schatten. Wie sich Carax zwischen solchen Szenen und dem Müllhaufen des restlichen Lebens der Liebenden bewegt, ist eine eindrucksvolle Leistung. Man empfindet, daß man ihm vertrauen kann. Im letzten Drittel des Films verliert Carax ein bißchen die Kontrolle. „Pont-Neuf“ hat zwei oder drei Schlüsse, jeder mit der Unwahrscheinlichkeit eines deus ex machina — und hier geht ein bißchen Vertrauen verloren. Lavant und Binoche machen jedoch auch den Schluß des Films noch sehenswert.

Peter Voigts „Metanoia“ ist der zweite Teil eines elegant einfachen Dokumentarfilms über fünf ostdeutsche Männer, die nach einer Kindheit in der Hitler-Jugend als Erwachsene Kommunisten waren. Mit einer Reihe von Interviews im Palast der Republik in Ost-Berlin geht der Film zwei zentralen Fragen nach: was glaubten diese Männer als Hitlerjungen, und wie schafften sie den Übergang zu kommunistischen Bürgern? Voigts erster Film beschäftigte sich mit den Erinnerungen dieser Männer an ihre Kindheit vor dem Kriege. In „Metanoia“ werden die entscheidenden Fragen wenn nicht beantwortet, so doch angeschnitten. Als Kinder glaubten sie, was man ihnen über den Nationalsozialismus sagte, und ohne Gegenbeweise konnten sie ihren Lehrern nichts entgegensetzen. Von Konzentrationslagern, sagten sie, hätten sie nichts gehört. Vom Nationalsozialismus gingen sie zum Kommunismus über, während sie noch in der geordneten Umgebung der Schule lebten, mit der Hilfe von Lehrern und Mitschülern, die sie anleiteten. Teilweise trug auch dazu bei, daß sie während ihres Heranwachsens, wenn sich das moralische Urteil von dem der Eltern scheidet, von der Massenvernichtung der Juden erfuhren. Da sie an diesen Scheußlichkeiten nicht beteiligt waren, konnten diese jungen Männer ihre Eltern verurteilen und in Übereinstimmung mit ihrer neuen Welt leben.

Anscheinend erwarteten einige Westdeutsche, der Übergang von einer nationalsozialistischen Jugend zum Kommunismus könne einige Aufschlüsse über die ideologischen Veränderungen liefern, die Ostdeutschland zur Zeit durchläuft. Dazu ist „Metanoia“ nicht geeignet. Die Zeiten nach dem Krieg und die nach der Mauer lassen sich nicht vergleichen. Für die Jungen in der Hitler-Jugend änderte sich die Welt schnell und radikal. Es gab keinen Kontext mehr, in dem sich ihr früheres Handeln und Denken hätte fortsetzen lassen; das alles war hinweggefegt. Das Problem mit dem heutigen Ostdeutschland liegt eher darin, daß zuviel gleich geblieben ist. Es gibt weder eine Entsowjetisierung noch einen Marshall-Plan. Statt zu fragen, warum das Leben im früheren Ostblock sich nicht schneller verändert, könnte man wohl die Frage stellen, wie es sich überhaupt verändern soll. Man könnte auch fragen, warum Westdeutsche glauben, die Wendung vom Nationalsozialismus zum Kommunismus sei krasser gewesen als im Westen die Wendung vom Nationalsozialismus zur Demokratie.

Ich war geschockt zu erfahren, daß Lawrence Kasdans „Grand Canyon“ von ernsthaften deutschen Kritikern gut aufgenommen wurde. Noch im ersten Drittel erleben die Zuschauer einen Überfall (ohne Schüsse), einen Überfall (mit), die Salve einer Maschinenpistole, ein ausgesetztes Baby, einen Herzanfall, ein Erdbeben, eine von ihrem Liebhaber verlassene Frau und einen Bandenkrieg. Wenn sich darin Kasdans Leben in Los Angeles spiegelt, dann bin ich froh, daß ich in New York lebe. Die Lösung für all diese Schauerlichkeiten, jedenfalls in diesem Mirakelfilm für kinderliebe Liberale: man mache seinen ganz privaten Schritt in ein besseres Leben. Befreunde dich mit dem ersten Schwarzen, der dir über den Weg läuft, oder nach dem schönen Wort unserer Telefongesellschaft: „Geh aus Dir heraus und faß jemand an.“ Dann wird man sein Leben mit Wundern erfüllen, besonders wenn man wie am Schluß von Kasdans Film seine neuen schwarzen Freunde zum Grand Canyon fährt. Meine Theorie zu dieser Szene: in einer früheren Drehbuchversion fuhren sie zum Washington Monument, um die unbegrenzten Möglichkeiten ihres Landes zu bestaunen — aber dann fiel jemandem ein, daß diese phallische Eruption von Americana nicht ganz das Richtige wäre, und deshalb entschied sich Kasdan für die politisch korrekte Lösung.

Was „Bugsy“ angeht: in diesem Film gibt es zweifellos drei oder vier Minuten Kino, ausnahmslos in Szenen mit physischer oder emotionaler Brutalität. Für den Rest des Films gibt es ein Heilmittel: noch einmal „Good Fellas“ anschauen.

Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning