Saurer Regen und 38 Millionen faulende Zähne

Zehn Jahre Wirtschaftsreform haben China zu einem der schmutzigsten Länder der Welt gemacht/ 700 Millionen Menschen leben mit verseuchtem Wasser/ Außerhalb der Mühen eines Umweltinstituts gibt es kaum öffentliche Diskussion  ■ Aus Peking Catherine Sampson

In Chinas industriellem Kerngebiet im Nordosten, wo unzählige Fabrikschornsteine Rauch ausstoßen, liegt Benxi — eine Stadt, die ihren Ruf nicht durch ihre Schönheit erwarb, sondern durch die Häßlichkeit ihrer Umgebung. In den letzten Jahren wurde Benxi bekannt als die Stadt, die kein Satellit zu entdecken vermag — wegen des Smogs, der sie verhüllt.

Was die Luftverschmutzung angeht, gehören Chinas Städte zu den schmutzigsten der Welt. In Osteuropa wurde das Ausmaß der Umweltkatastrophe erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der mit ihm verbundenen Geheimhaltung offenbar; in China schwanken die Funktionäre zwischen Defensive und Ehrlichkeit. Die Luftverschmutzung habe nicht so schnell zugenommen wie das Wirtschaftswachstum, sagen sie. Gleichzeitig geben sie zu, die Lage sei dennoch „ernst“, und haben entwickelte Länder um finanzielle Hilfe im Kampf gegen den Verfall der Umwelt gebeten.

Die Schwerindustrie trägt nur zum Teil die Schuld. Zehn Jahre Wirtschaftsreform haben unzählige kommunale Unternehmen hervorgebracht, die giftige Schadstoffe in Luft und Wasser ausstoßen. Sie besitzen weder die Fachkenntnis noch die Mittel, um die von ihnen verursachte Luftverschmutzung zu senken; zudem liegen sie außerhalb des leichter zu kontrollierenden Sektors der staatlichen Wirtschaft.

Kohle liefert mehr als siebzig Prozent des gesamten chinesischen Energieverbrauchs und verursacht siebzig Prozent der Umweltverschmutzung. In jedem Jahr setzt die Kohleverbrennung in Wohnungen und Unternehmen 20 Millionen Tonnen Staub frei, 80 Prozent aller festen Schadstoffe und fünfzehn Millionen Tonnen Schwefeldioxid. Das Quangdong-Quanxi-Sechuan-Quiz

hou-Becken ist inzwischen eine der drei Zonen in der Welt mit der höchsten Belastung durch sauren Regen.

Zusätzlich wird die Menge der jährlichen Abwässer auf etwa 35 Milliarden Tonnen geschätzt. Die Menge der festen Industrieabfälle belief sich 1989 auf 560 Millionen Tonnen. Und wie steht es mit den gefürchteten FCKWs? China produziert jährlich 12 Millionen Kühlschränke.

Peking hat bändeweise Bestimmungen zur Kontrolle der Umweltverschmutzung verabschiedet, in denen von den Unternehmen gefordert wird, ihre Schadstoffemissionen zu begrenzen; für eine Übertretung der Bestimmungen werden Geldstrafen angedroht. Aber in China sind Regeln da, um übertreten zu werden. In den meisten Fällen gehen die Firmen bereitwillig das Risiko einer Geldstrafe ein. In einem Fall wurde eine Taschentuchfabrik in Quingdao geschlossen, weil sie gefährliche Mengen giftiger Gase ausstieß — aber erst nachdem zehntausend Einwohner eine entsprechende Petition unterschrieben hatten.

Regierungsfunktionäre versuchen eine Diskussion der gesundheitlichen Auswirkungen der Umweltverschmutzung zu umgehen — vielleicht sind sie peinlich berührt, daß in einer sozialistischen Gesellschaft das ökonomische Wachstum die Gesundheit des Proletariats schädigt. Aber die Professoren des Instituts für Umweltgesundheit und -technik äußern sich offen über die Krankheiten und Todesfälle, die auf die Umweltverschmutzung zurückgehen.

In Chinas Nordost-Provinz Liaoning ist die Sterblichkeitsrate wegen chronischer Lungenkrankheiten vier- bis fünfmal höher als in entwickelten Ländern. Das bedeutet, daß in der Provinzhauptstadt Shenyang jedes Jahr etwa zweitausend Menschen sterben, die statistisch gesprochen nicht gestorben wären, wenn sie in einem entwickelten Land lebten. An Orten wie Xuanwei in der Provinz Yünnan sterben Frauen, die ihre Kochherde mit Kohlen von schlechter Qualität heizen, ebenso häufig an Lungenkrebs wie kettenrauchende Chinesen.

Auch bei der Arbeit setzen fünfzig Prozent der kommunalen Unternehmen ihre Arbeiter gesundheitlichen Risiken aus, von den einige tödlich sind: Vierzig Prozent der Arbeiter in kommunalen Kohlebergwerken erkranken an Staublunge, und zwanzig Prozent der Arbeiter in Asbestfabriken bekommen Asbestose.

Das Institut hat herausgefunden, daß in China siebenhundert Millionen Menschen auf verschmutztes Wasser angewiesen sind. Davon werden 77 Millionen Menschen mit Wasser beliefert, das ein Übermaß an Fluoriden enthält. Im Ergebnis leiden etwa 38 Millionen Menschen an Fluorvergiftung der Zähne: Die Zähne verfaulen und fallen aus. 1,7 Millionen haben eine Fluorvergiftung der Knochen, mit weitgehend den gleichen Auswirkungen für die Knochen. Im Nordosten verursachen kleine Aluminiumfabriken Fluoremissionen in solchem Ausmaß, daß selbst Tiere an Fluorvergiftung leiden.