: „Geschichte nicht begriffen“
■ Hessens Ministerpräsident Eichel fordert Schließung der Stasi-Archive/ Unionsgeschäftsführer Rüttgers bezichtigt Gauck der Selbstüberschätzung, die meisten Politiker aber nehmen ihn in Schutz
Berlin (taz) — Hessens Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) fordert einen kurzen Prozeß, eine „radikale Kehrtwende“. Hätte der Wessi auf dem Gebiet der Stasi-Aufarbeitung etwas zu sagen — die Archive der Staatssicherheit würden geschlossen, das Stasi-Unterlagen-Gesetz umgehend geändert und die weitere Enttarnung Inoffizieller Mitarbeiter unterbunden. „Wir hätten diese schlimmen Akten niemals der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen dürfen“, ließ Eichel gestern in einem Interview mit der 'BZ am Sonntag‘ verlauten. Sein Ergebnis nach sieben Wochen Öffnung der Archive: „Die Täter werden zu Kronzeugen, Mittler zu Stasi-Spitzeln und Opfer zu Tätern.“ Folgt man der kurvenreichen Argumentation des hessischen Premiers, müßten die Stasi- Unterlagen — weil unter verbrecherischen Methoden angesammelt — „im Grunde“ in den Reißwolf. Eichels Erkenntnis: „Wir haben die Geschichte überhaupt nicht begriffen, wenn wir die Aufzeichungen eines diktatorischen Regimes plötzlich als Quelle der Wahrheit verstehen.“
Nur werden die Stasi-Akten von niemandem als Quelle der Wahrheit geschätzt. Ihr sachlicher Informationsgehalt wird allerdings, mit wenigen Ausnahmen, nicht bestritten. Das gilt auch für den Untersuchungsausschuß in Bonn, der die Machenschaften des SED-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski aufdecken soll. Dessen Mitglieder haben wiederholt die Lieferung umfangreicher Unterlagen aus der Gauck-Behörde angemahnt. Bemängelt wird im Ausschuß kein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Akten. Während die Gauck-Behörde auf eine juristisch saubere Lösung pocht, die die „überwiegenden schützwürdigen Belange Dritter“ in den Stasi-Akten mit dem Aufklärungsinteresse des Ausschusses in Vereinbarung bringt, dringen die Ausschußmitglieder auf eine zügige Herausgabe der Unterlagen.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Rüttgers, nahm den Konflikt zum Anlaß, den Bundesbeauftragten in ungewöhnlich scharfer Form anzugreifen. In einem Brief an Joachim Gauck warf er diesem vor: „Es gibt kein Monopol der Vergangenheitsaufklärung, auch kein Monopol der Gauck-Behörde, die eben nicht eine zugleich verläßliche und umfassende Auskunftei über Schuld und Verantwortung sein kann.“ Der Geschäftsführer zürnte, Gauck würde sich immer wieder zu einzelnen Stasi-Fällen äußern und seine Kompetenzen überschreiten. Weil Gauck im Zusammenhang mit den Stasi-Anschuldigungen gegen den Brandenburger Ministerpräsidenten Stolpe erklärt hat, er könne sich prinzipiell nicht vorstellen, daß Gesprächspartner der Stasi jahrelang ohne ihr Wissen als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) geführt wurden, tobte der Unions-Christ, „daß das Halbdunkel ihrer Andeutungen ein Nährboden für Spekukationen ist“. Eine „Selbstüberschätzung“ Gaucks sei fehl am Platze.
Im Rahmen einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Berlin- Brandenburg zum Umgang mit den Stasi-Akten wies Gauck am Samstag die Vorwürfe gegen seine Behörde und seine Person zurück. Kritikern seiner Aussagen über fiktive IMs hielt er vor, seine Ausführungen „gefällig gekürzt“ zu haben. Der streitbare Theologe war auch keineswegs gewillt, sich einen Maulkorb verpassen zu lassen: „Ich möchte kein unerkennbares und undefinierbares Rädchen in einer Bürokratie sein.“ Es müsse erlaubt sein, „Prinzipien, die Demokratie weiter entwickeln, offensiv zu vertreten“. Zur Frage der Glaubwürdigkeit der Akten erklärte er, sie seien zwar „teuflisch, aber auch preußisch“. Die Auskünfte seiner Behörde, die sich auf diese Unterlagen stützten, hielten auch einer gerichtlichen Überprüfug stand.
Führende Politiker haben am Wochenende den Bundesbeauftragten gegen Kritik an seiner Amtsführung verteidigt. CDU-Generalsekretär Volker Rühe und der innenpolitische Sprecher der Bonner FDP-Fraktion, Burkhard Hirsch, sprachen Gauck ihr Vertrauen aus. Die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth rief dazu auf, Gauck ungeachtet der Kritik zu unterstützen. Der Bundesbeauftragte habe eine sehr schwierige Aufgabe zu erfüllen. „Niemand kann erwarten, das geschieht fehlerfrei.“ Ständige Kritik an Institutionen oder Personen mache jedoch den Umgang mit den Stasi-Akten noch schwieriger. wg
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