Neolithische Bierbrauer in Neukölln

■ Als Brandenburg vor 12.000 Jahren noch zur Tundra gehörte, jagten die Urberliner Rentiere/ Die »Jäger von Tegel« waren, wie spätere Ausgrabungen belegen, ähnlich »hinterwäldlerisch« wie die heutigen Bewohner der Stadt

Endlich ist Frühling, Jagdzeit. Vorbei die kargen Mahlzeiten mit Trockenfleisch, vorbei die kalten Nächte im Zelt. Warme Sonnenstrahlen schmelzen das Eis auf der Seenkette, die sich durchs Land zieht. Der letzte Schnee taut von den Ästen der Zwergbirken und Polarweiden — bizarr gekrümmte Überreste aus der vergangenen Eiszeit. Hierher, in die tundrenartige Landschaft am Tegeler Fließ kommen die Jäger schon seit Jahren. An diesem einzigen Übergang weit und breit nämlich überquert eine Rentierherde auf ihrem Weg in den kälteren, mückenfreien Norden das Wasser. Von Seeufer zu Seeufer, ist die Stelle nur sieben Meter breit — ideal zum Auflauern.

Wolfsgeheul kündigt die nahende Herde an, und die Männer begeben sich in Position. Schon schwimmen Hunderte von Rentieren im eisigen Wasser. Da schwirren Pfeile. Die getroffenen Tiere bäumen sich auf. Ein Teil der Jäger zieht das sterbende Wild an Land, die anderen schießen unermüdlich Pfeil um Pfeil...

Am Abend wird das Jagdglück dann mit dem ersten Rentierbraten seit langem gefeiert. Verlockender Duft zieht durch das Zeltlager der fünfzehn erfolgreichen Jäger. Das Feuer, an dem sie sich wärmen, brennt mit feinen Tierknochen, denn Holz ist in dieser Gegend rar. Das restliche erbeutete Renfleisch wird in tiefen Erdgruben, bei Dauerfrost, eingefroren.

Die Jäger von Tegel gelten als die ersten »Berliner«. Die Ausgrabungen des Rastplatzes — mit die umfangreichsten dieser Art in ganz Europa überhaupt — belegen die erste gesicherte saisonale Bewohnung des Berliner Raums. Die Urberliner haben vor mehr als 12.000 Jahren gelebt und sind doch den heutigen Bewohnern der Riesenstadt gar nicht so unähnlich. Denn die Entwicklung des Menschen zum Homo sapiens war zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen. So haben sich unsere Vorfahren wie wir Gedanken über Leben und Tod gemacht, gelacht, geweint, sich gefreut, sich geärgert. Ihre bescheidenen technischen Errungenschaften, Holz- und Geweihwerkzeug sowie die eher erhaltenen Feuerstein- und Steingeräte, stehen mit am Anfang einer Jahrtausende langen Kette von Erfindungen.

Die Steinzeitmenschen waren gewohnt, flexibel zu sein und sich an die Vorgaben der Natur anzupassen. Wie sonst auch hätten sie überleben können, als es vor 10.000 Jahren langsam wärmer wurde und völlig neue Umweltbedingungen entstanden. Bäume verdrängten allmählich die krüppeligen Sträucher, wuchsen dichter zusammen. Erste Wälder entstanden in der Mark Brandenburg und vertrieben die Rentierherden, die die offene Tundra bevorzugten. Die Jäger und Sammler, gewohnt, dem wandernden Tier zu folgen, kamen durch das neue Dickicht nicht nach.

Dafür zog »Standwild« durch die aufkommenden Wälder — also Hirsche, Rehe und Wildschweine. Die Menschen richteten sich mit ihnen hier ein. Sie bauten einfache Hütten, meist am Ufer eines Gewässers, lebten aber nach wie vor von der Jagd, vom Fischfang und, das haben »Pollenanalysen« ergeben, von der weit verbreiteten Haselnuß. Der größte norddeutsche Wohnplatz mit 27 Hütten ist in Jünsdorf, Kreis Zossen, ausgegraben worden. Vermutlich hatten die Menschen, ungefähr 1,60 Meter groß und selten älter als 30 Jahre, damals schon eine Art »Fußbodenheizung«. Sie hoben einfach eine Grube aus und füllten sie mit Isoliermaterial wie Holz und Rinde.

Diese Übergangszeit, vom Nomadentum zur bäuerlichen Lebensart mit Ackerbau und Viehzucht, heißt »Mesolithikum«. Sie dauerte in Berlin und Umgebung über 5.000 Jahre und währte damit vergleichsweise lange. Manche Archäologen neigen daher zu dem Schluß, die Urberliner wären »hinterwäldlerisch« oder gar verschlafen gewesen. Das ist falsch. Sie lebten vielmehr hervorragend angepaßt an ihre spezielle Umwelt. Schließlich bot sich der schlechte Berliner Sandboden nicht gerade für Anbauversuche an.

Die revolutionäre Idee, Nahrungsmittel selbst zu produzieren — ohne die unser Leben heute ganz anders aussehen würde —, stammt aus dem Vorderen Orient. Über den Balkan kommend, breitete sie sich entlang der Donau aus und nach neusten Erkenntnissen auch entlang der Rhone. Im fünften Jahrtausend v.Chr. erreichte sie das deutsche Mittelgebirge.

Die ersten deutschen Bauern, nach ihren typischen Tongefäßen »Bandkeramiker« genannt, ließen sich nur auf fruchtbarstem Löß- oder Schwarzerdeboden im südlichen Deutschland nieder. Verständlich also, daß eine solche Keramik um Berlin herum bislang vergeblich gesucht wurde.

In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts fanden Arbeiter beim Bau der Hufeisensiedlung in Neukölln/Britz Überreste einer Siedlung. Ausgrabungen brachten reichlich Funde zutage und damit viele spannende Erkenntnisse über die Lebensweise der angehenden Berliner Bauern.

Die »Trichterbecherleute« wohnten in häuserartigen »Pfostenbauten« und bauten Getreide an, um daraus Fladenbrot zu backen, ihr wichtigstes Nahrungsmittel. Sie hielten Pferde, Rinder und Schweine und brauten, wie Grabungsleiter C. Umbreit vermutete, als erste »in Deutschland« Bier.

Auch technische Errungenschaften kennzeichnen die neue Zeit (»Neolithikum«). So gelang es den Bauern mit Hilfe von Schleifplatten, Feuersteinbeile zu schärfen, und weicheres Gestein mittels »Bohrmaschine« — einem drehbaren Stab in einer Halterung — zu durchbohren. Ein Beil aus Britz beweist, daß Außenverbindungen bestanden haben müssen, denn das Rohmaterial kam aus Südpolen. Spätestens jetzt, 3000 Jahre v. Chr. ist der Händlerberuf geboren worden.

Doch eines fehlte den Berlinern noch, womit die Südosteuropäer schon lange experimentierten: Metall. Im Berliner Raum gab es weder Kupfer noch das für die Herstellung der vorteilhafteren, weil härteren, Bronze notwendige Zinn. Und so sind die Berliner einmal mehr auf das Gedankengut und die Importe von außen angewiesen gewesen. Wer nun denkt, sie hätten das neue Material, das nie wirklich kaputtgeht, da man es immer wieder einschmelzen kann, begeistert aufgenommen, der irrt.

Die Berliner waren zunächst skeptisch. Erst 1500 v.Chr. gab es eigene Bronzegießwerkstätten in Brandenburg. Dort wurden die gegen Bernstein oder Vieh getauschten Barren, die zunächst wie die Rohform des späteren Werkzeugs aussahen, dann immer abstraktere Formen annahmen, zu Gebrauchsgegenständen und Schmuck weiterverarbeitet.

Ab dem 14. Jahrhundert v.Chr. prägen die weitverbreiteten Lausitzer mit ihrer Kultur auch die Berliner Gegend. Leichenverbrennung löste die Körperbestattung ab. Die Asche wurde in eine Urne gegeben und mit bis zu vierzig Beigefäßen für die Wegzehrung des Toten vergraben. Darüber wurde ein Grabhügel aufgeschüttet. Obwohl es üblich war, für sozial höherstehende Personen besonders große Hügel zu errichten, schien der Sinn für Gleichheit dennoch ausgeprägt zu sein. Die 230 Hügelgräber, die man auf dem Urnenfeld in Rahnsdorf gefunden hat, unterscheiden sich nämlich nicht an Größe. Nach diesem Höhepunkt der Erschließung des Berliner Raumes in der Jungbronzezeit ging die Besiedlung ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. deutlich zurück. Die Lausitzer Kultur verfiel. Auch änderte sich das Klima, es wurde wieder kälter. Die Menschen zogen sich zurück. Erst vom 5. Jahrhundert an gab es einen erneuten Aufschwung. Die Berliner entdeckten das Eisen, aus dem in der Folgezeit harte Waffen geschmiedet wurden. Und mit dem Rohstoff »Raseneisenstein«, den es in Brandenburg gab, waren die Berliner erstmals unabhängig von Importen aus dem Ausland. Endlich. Sonja Striegl/Tobias Krämer