Der getaute Viktor und seine Fanatiker

Das beste Team des Eishockey-Turnieres gewinnt hochüberlegen das Finale: GUS—Kanada 3:1 (0:0, 0:0, 3:1)/ Dritter Olympiasieg für den geläuterten, nun sogar lächelnden Coach Viktor Tichonow  ■ Aus Meribel Matti Lieske

Kaum war die Schlußsirene des Eishockeyfinales der Olympischen Winterspiele verklungen, da begannen die russischen Spieler ausgelassen auf dem Eis zu tanzen, fielen sich weinend in die Arme und bildeten einen dichten Knäuel von ineinander verhakten Körpern, wobei einer gar aufs Tor kletterte und sich von oben auf seine glückseligen Gospodins stürzte.

Dann warfen sie ihre Handschuhe und Schläger ins Publikum — eine Geste, die der nicht gerade reichlich mit Gütern gesegnete GUS-Verband kaum gern gesehen haben wird — und schon umhalsten sie sich aufs Neue, während Endspielgegner Kanada ziemlich bedeppert und unmutig auf dem Eis herumstand.

Wohl selten zuvor hat sich eine sowjetische Eishockeymannschaft so sehr über einen Olympiasieg gefreut wie diese, die nicht einmal davor zurückschreckte, den einst so grimmen Trainer Viktor Tichonow in die Luft zu schleudern. Frühere Teams hätten so etwas kaum gewagt, geschweige denn gewollt. Damals war der eisige Oberst die Verkörperung des Stalinismus im Sport und forderte absolute Disziplin und Unterordnung von den Spielern, die ihn dafür herzlich haßten. Fast das ganze Jahr wurden sie im Trainingslager von ihm traktiert, Heimaturlaub erteilte er höchst ungern. „Eishockey ist das beste Verhütungsmittel“, pflegten sie zu sagen.

„Die Spieler sind nun frei“, sagt Mannschaftskapitän Wjatscheslaw Bykow, einer der wenigen, die schon beim Goldmedaillengewinn 1988 in Calgary dabei waren, „und Tichonow hat sich geändert. Er lächelt jetzt sogar manchmal.“ Dazu hatte er in Meribel allen Grund. Zum dritten Mal gewann ein von ihm betreutes Team bei Olympia, damit zog Tichonow mit der UdSSR-Trainerlegende Antoni Tarasow gleich. Dabei hatte vor den Spielen kaum jemand einen Pfifferling für das junge GUS-Team gegeben. 40 der besten russischen Spieler sind mittlerweile in der nordamerikanischen Profiliga NHL aktiv, die einzigen Auslandsprofis, die in Frankreich mitwirkten, waren „Slawa“ Bykow und sein Freund Andrej Khomutow, die gemeinsam im schweizerischen Fribourg spielen. Das restliche Team bestand weitgehend aus Nachwuchsspielern, von denen allerdings auch schon wieder elf auf der Wunschliste der NHL stehen.

Von Anfang an spielte die GUS- Mannschaft eindeutig das beste Eishockey beim olympischen Turnier. Die Handschrift des Ex-Fußballers Tichonow war unverkennbar, der Spielaufbau lief wie am Schnürchen. Jeder Akteur wußte genau, wo sich seine Mitstreiter in welchem Augenblick befanden und wohin er zu spielen hatte. „Tichonow hat uns zu Fanatikern gemacht“, meint Bykow, „aber im positiven Sinn.“ Feinfühlig wie John McEnroe das Tennis-Racket handhaben sie die Hockeykelle, laufen Schlittschuh wie eine Mischung aus Viktor Petrenko und Bonnie Blair und kombinieren wie der Schalker Kreisel in seinen besten Zeiten. Nur, wenn es darum geht, die Überlegenheit in Tore umzumünzen, hapert es. Weit mehr als am erfolgreichen Torschuß scheinen Tichonows Youngsters daran interessiert zu beweisen, daß sie genauso brillant Eishockey spielen können wie ihre Vorgänger Makarow, Fetisow oder Larionow. Ein Treffer, bei dem nicht vorher der Torwart ausgespielt wird — was ist das schon? Wo jeder andere Stürmer des Turniers geschossen hätte, gaben sie ab, und dann aus noch besserer Position gleich nochmal, bis der Puck entweder im Netz oder — weit häufiger — abgeblockt war.

So kam es, daß die in allen Belangen unterlegenen Kanadier, bei denen einzig der 18jährige Eric Lindros lichte Momente hatte, im Finale mit 1:3 davonkamen, statt mit 1:5 oder 1:7, wie es gut und gerne hätte heißen können. Nach zwei torlosen Dritteln trullerte der Kreisel erst im dritten Abschnitt auch mal hinter die Torlinie von Kanadas vom Glück verfolgten Keeper Sean Burke, die endgültige Entscheidung besorgte eine Minute vor Schluß der Kapitän selbst: Slawa Bykow traf mit wuchtigem Schuß.

Nach den gloriosen olympischen Auftritten von Tichonows neuer „Sbornaja“ ist diese nun auch Favorit für die Weltmeisterschaft im April in Prag, vorausgesetzt es gelingt ihr, sich bis dahin mit neuen Handschuhen und Schlägern zu versorgen.