GASTKOMMENTAR
: Schuldfragen

■ Die Abrechnung mit dem SED-Regime bringt die Frage einer Amnestie aufs Tapet

In Schuldfragen, wo es um Recht geht, kommt man der Wahrheit nur näher, wenn ordentliche Gerichte für ein faires Verfahren sorgen, die Akten auf dem Tisch liegen und nach mündlicher Verhandlung ein begründetes Urteil gefällt wird — das nach rechtsstaatlichen Regeln in nächster Instanz auch revidiert werden kann.

Freilich erahnen wir längst die Grenzen der Rechtsprechung. Schmerzlich für die Leidtragenden der DDR-Herrschaft, doch offenbar kann den SED-Bonzen von einst kein angemessener Prozeß gemacht werden. Das nationale Rechtssystem ist dafür ungeeignet, und ein supranationales Recht, das einem internationalen Gerichtshof die Strafverfolgung ermöglichen würde, gibt es — ein halbes Jahrhundert nach den Nürnberger Prozessen — bedauerlicherweise noch immer nicht.

Wenn sich aber die politisch Verantwortlichen des SED-Regimes durch Rechtslücken (oder den Alterstod) der Verfolgung entziehen können, ist es dann gerecht, ihre Untergebenen stellvertretend zur Rechenschaft zu ziehen? Ja, lautet die spontane Antwort im Gedenken an die Opfer von Bautzen und Mauer. Nach den bisherigen Prozessen ist wohl eher ein Jein angebracht, da die Ermessensspielräume, ob zum Zeitpunkt der Straftatbestände wirklich Befehlsnotstand vorlag oder nicht, groß sind, zumal Richtern aus dem Westen selbstredend lebensgeschichtliches Urteilsvermögen fehlt. Angesichts des Dilemmas der Justiz, DDR-Recht zugrunde legen zu müssen, um Opfern und Tätern gerecht zu werden, ist Richterschelte gleichsam vorprogrammiert.

Aus diesem Justiz-Dilemma kann nur der Gesetzgeber einen Ausweg weisen, sprich der Bundestag und mithin die politischen Parteien. Sie müssen — vermutlich eher früher als später — die Frage klären, die sich der Politik auch in anderen Ländern mit einstigen Unrechtsregimen aufdrängte: Amnestie für wen und wann? Alle Erfahrung lehrt, daß über Amnestie stets höchst emotional gestritten wird, da nichts schmerzlicher ist als ungesühntes Unrecht. Aber der Streit ist (erneut) unvermeidlich, da jede juristische Abrechnung mit der Vergangenheit mit einem politischen Schlußstrich durch gesetzliche Verjährungsfristen enden sollte.

Was rechtlicher Wahrheitsfindung ohnehin nicht zugänglich ist, sind moralische Schuldfragen. Die muß jeder, der sich im SED-Staat stramm systemkonform verhielt, mit sich selbst und seinem Gewissen bereinigen. Zu irdischen Anklägern dürfen sich allenfalls diejenigen aufschwingen, die durch grob amoralisches Verhalten unmittelbar betroffen wurden. Wenn nunmehr die menschlichen Verstrickungen im Stasi-Netz entwirrt werden, taugen Westdeutsche ganz sicherlich nicht als Seelsorger; vielmehr sollten sie/wir zuhören und möglichst schweigen.

Mitreden dürfen wir freilich immer dann, wenn deutsch-deutsche Abrechnungen angesagt sind — und vieles deutet darauf hin, daß diese Abrechnung mit parteipolitischem Kalkül längst begonnen hat. Wenn momentan evangelische Kirchenvertreter und sozialdemokratische Protagonisten der Ostpolitik in die Defensive geraten, weil sie Kontakte zum SED-Regime unterhielten, wird klar, was gespielt wird: Vergangenheitsbewältigung durch politische Diskreditierung. In dieser Lage helfen auch keine Verweise auf die realen Machtverhältnisse vor 89, da die Medien partout nicht abwarten wollen, was gelernte Historiker zutage fördern, wenn sie sich über die Dokumente knien können? Wir werden daher notgedrungen über die Vergangenheit parteilich streiten müssen.

Allerdings sollten wir den politischen Diskurs tunlichst um die wirtschaftliche Dimension erweitern. Die Omnipotenz der Stasi war nämlich die brutale Kehrseite der Impotenz eines Wirtschaftsgebarens, das jahrzehntelang die Inkompetenz der Mittags&Co. tolerierte. Olympische Scheinerfolge — und Albertville bescherte diese nochmals gesamtdeutsch — konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die DDR im Wettbewerb um reale Zukunftschancen auf Trabi-Niveau hinterherlief. Und wenn wir die deutsch-deutsche Nabelschau allzu lange übertreiben, droht uns wohl einst ein ähnliches Schicksal. Michael Hofmann

Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag,

Mitglied der SPD