Pflegeversicherung: Blüm droht die Bauchlandung

Arbeitsminister hat seine Partei für die fünfte Sozialstaatssäule gewonnen/ Aber Wirtschaftsflügel der CDU hat sein Konzept aufgeweicht  ■ Von Annette Jensen

Berlin (taz) — „Am meisten ramponieren wir das Ansehen dieser Koalition, wenn wir eine Art Herz-Jesu- Sozialismus betreiben“, kommentierte Wirtschaftsminister Möllemann kürzlich die stockenden Verhandlungen über die Pflegeversicherung. Bis zum 1. Juli, also zur Halbzeit der Legislaturperiode, wollen die Regierungsparteien mit einem Gesetzesvorschlag im Bundestag vorstellig werden. Zunächst drei Termine sind vereinbart, in denen man zu einer gemeinsamen Linie, zumindest aber zu einer Annäherung kommen will. Übereinstimmung gibt es bisher nur darüber, daß die jeweils favorisierten Modelle nicht miteinander zu vereinbaren sind. „Zwischen Sozialversicherung und Privatversicherung, ob freiwillig oder Pflicht, gibt es keinen dritten Weg. Das sind zwei verschiedene Schienenstränge“, sagt Blüm. Und der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff pflichtet ihm bei: „Wie Feuer und Wasser — nicht miteinander mischbar.“

So verständigten sich die Koalitionäre bei der ersten Gesprächsrunde in diesem Jahr lediglich auf einige Allgemeinplätze, die von Heiner Geißler großspurig als „Eckpunkte“ bezeichnet wurden: die Pflegeversicherung müsse praktikabel sein, den Menschen zugute kommen und dürfe die Wirtschaft nicht belasten. Während aber der Initiator, Arbeitsminister Norbert Blüm, die Notwendigkeit einer Pflegeversicherung immer wieder betont und auf eine Entscheidung drängt, haben die Liberalen das Thema nur halbherzig entdeckt, und Möllemann äußerte kürzlich in einem Interview: „Lieber keine Pflegeversicherung als eine falsche.“

Blüm: Fünfte Säule im Sozialstaat

Norbert Blüm will die Pflegeversicherung als fünfte Säule im Sozialstaat errichten. Sein ursprünglicher Vorschlag: Zwei Prozent vom Bruttolohn sollten in die Pflegekasse eingezahlt werden, und zwar je zur Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Nur wer mehr als 4.870 Mark im Monat verdient, selbständig arbeitet oder Beamter ist, braucht genau wie bei der Krankenversicherung keine Beiträge zu leisten. Die SPD unterstützt Blüm im Prinzip, schlägt allerdings einen niedrigeren Prozentsatz von 1,4 vor, der durch eine höhere Beitragsbemessungsgrenze kompensiert werden soll. Die Sozialdemokraten wollen eine Pflichtversicherung für alle, die weniger als 6.500 Mark verdienen. Das Bündnis 90/Grüne plädiert für einen dreiprozentigen Lohnanteil und eine Beitragsbemessungsgrenze von ebenfalls 6.500 Mark.

Grundprinzip dieser drei Vorstellungen ist, daß die wenig Verdienenden auch wenig einzahlen, aber im Pflegefall die gleichen Leistungen bekommen. Bis zu 2.000 Mark würde die Kasse gegebenenfalls übernehmen, so daß statt bisher 70 nur noch 20 Prozent der Pflegebedürftigen auf Sozialhilfe angewiesen wären. Das Arbeitsministerium schlägt vor, daß die so eingesparten Sozialhilfeausgaben, immerhin ein Drittel, von den Kommunen für eine verbesserte Pflege-Infrastruktur ausgegeben werden: denn in dieser Beziehung ist die Bundesrepublik ein Entwicklungsland. Nur 1.100 Tagespflegeplätze gibt es in den alten Ländern; in Dänemark ist die Dichte fast 20mal so hoch. Obwohl die CDU der Opposition viel näher steht als ihrem Koalitionspartner, hat Geißler einen Bruch mit der FDP schon kategorisch ausgeschlossen.

Liberale: Keine Mark aus Arbeitgeberkassen

Die Liberalen protestieren vor allem wegen des Arbeitgeberanteils gegen die neue Sozialversicherungssäule. Die schon durch andere Sozialabgaben geknebelte deutsche Wirtschaft könne weitere Kosten nicht verkraften, wenn sie international wettbewerbsfähig bleiben solle, nölen Möllemann und Lambsdorff gemeinsam. Eine „Arbeitgeberbeteiligung verteuert die Beschäftigung in offiziellen Arbeitsverhältnissen, fördert die Abwanderung in die Schattenwirtschaft ... und wirkt sich negativ auf die Leistungsbereitschaft und das Arbeitskräfteangebot aus“, heißt es dazu in einem vor drei Tagen (am 10.2.) an die FDP-Fraktion verteilten Papier aus dem Wirtschaftsministerium. Und das Münchener Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung malt scheinheilig das Gespenst wachsender Arbeitslosigkeit an die Wand: 54 Prozent der Unternehmen wollen mit verstärkten Rationalisierungsmaßnahmen reagieren, wenn Blüms Vorschlag durchkommt.

Die FDP streitet deshalb für die neue Bürgerspflicht einer privaten Pflegeversicherungspolice. In „freier“ Konkurrenz dürfen die Versicherungen die Beiträge festlegen, wobei Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen nicht wie bisher bei entsprechenden Verträgen mit einberechnet werden sollen. Eine neu zu schaffende Behörde hat die Aufgabe zu überprüfen, daß auch alle ihr Scherflein überweisen — denn freiwillig sind gegenwärtig nur sechs Prozent der Bundesbürger zu diesem Engagement bereit.

Während dieses Modell in die Kassen der Menschen mit geringem Einkommen tiefe Löcher reißen würde, kämen die Arbeitgeber ganz ungeschoren davon — und bejubeln deshalb natürlich den liberalen Vorschlag.

Blüms Experten haben ausgerechnet, daß bei dem FDP-Modell 74 Milliarden Mark Kosten für den Staatshaushalt entstünden: denn nicht nur die heute 1,65 Millionen Pflegebedürftigen müßten versorgt werden, ohne daß sie je eingezahlt hätten. Auch ein Einheitsbetrag von 40 Mark reiche auf keinen Fall aus, um ein Risiko in Höhe von 2.000 Mark abzusichern; die höheren Kosten müßten also aus den öffentlichen Haushalten bestritten werden.

Der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) schickte gleich die Retourkutsche: Wegen der zunehmenden Vergreisung der Bevölkerung müßten beim Blüm-Modell künftige Generationen, im Jahr 2030 zum Beispiel, schon vier statt heute zwei Prozent ihres Lohns in die Pflegekassen einzahlen. Denn falls kein plötzlicher Babyboom über Deutschland hereinbricht, kommen dann 74 Rentner auf 100 Erwerbstätige; heute sind es 35. Das Bündnis 90/ Grüne schlägt genau deshalb vor, jetzt schon drei Prozent vom Lohn einzuziehen und einen Kapitalstock einzurichten, um steigenden Beiträgen vorzubeugen.

Mit einem Tendenzbeschluß hat sich die CDU im September darauf festgelegt, daß die Absicherung gegen das Pflegefallrisiko von Arbeitnehmern und -gebern gemeinsam finanziert werden soll. Damit wurde nach außen hin Arbeitsminister Blüm der Rücken gestärkt und auch der ansonsten FDP-nahe Wirtschaftsrat eingebunden. Allerdings ist das ursprünglich durchaus schlüssige Konzept inzwischen wirtschaftsfreundlich aufgeweicht: nicht mehr zwei, sondern 1,5 Prozent der Löhne sollen demnach in die Versicherungskassen fließen, je zur Hälfte zu Lasten des Unternehmens und des Angestellten. Um Pflegekosten von 2.000 Mark abzusichern, müßte also der SPD- und Bündnis-90/Grüne- Vorschlag einer höheren Beitragsbemessungsgrenze übernommen werden. Dagegen sperren sich aber wieder Dieter Murmann und seine Mannen im Wirtschaftsrat — kein Wunder, schlagen sich doch die Prozente bei höheren Einkommen stärker in den Bilanzen nieder als bei den Niedriglohngruppen.

Weiterer Gegenwind bläst Blüm von seiten des Vorsitzenden der sozialpolitischen Arbeitsgruppe, Julius Louven, ins Gesicht. Er hat einen — faulen — Kompromißvorschlag erarbeitet: alle schon heute Arbeitenden sollen nach dem Blüm-Modell versichert werden; wer künftig ins Berufsleben eintritt, muß eine private Pflegeversicherung nach FDP- Vorstellungen abschließen. Weil aber das Blüm-Modell auf einem neuen Generationenvertrag basiert, nach Louvens Vorstellung aber keine jungen Menschen mehr eintreten, müßten immer weniger Arbeitende immer mehr Pflegebedürftige versorgen: ein Milliardenloch wäre vorprogrammiert — allerdings erst im nächsten Jahrtausend.

Nach der verkorksten Gesundheitsreform droht Blüm jetzt auch bei seinem zweiten großen sozialpolitischen Vorstoß zu scheitern. Wird sein Vorschlag von den Wirtschaftsvertretern, Louven oder der FDP gerupft, wofür vieles spricht, ist für die Mehrheit der Betroffenen auch in Zukunft keine würdige Existenzsicherung möglich. Denn schon wenn lediglich Kosten von 1.500 Mark oder sogar noch weniger abgesichert wären, müßten auch in Zukunft rund 50 Prozent der Pflegebedürftigen von einem demütigend kargen Taschengeld der Sozialhilfe leben.