Karl May: der geniale Schöpfer des B-Epos

■ 150 Jahre alt und kein bißchen tot: Karl May, der geistige Vater Winnetous und Old Shatterhands oder der "kleinbürgerliche Verfasser von spannenden, jedoch künstlerisch anspruchslosen,...

Karl May: der geniale Schöpfer des B-Epos 150 Jahre alt und kein bißchen tot: Karl May, der geistige Vater Winnetous und Old Shatterhands oder der „kleinbürgerliche Verfasser von spannenden, jedoch künstlerisch anspruchslosen, unrealistischen Indianerbüchern“ (DDR-Lexikon), steht auch 80 Jahre nach seinem Tod nach wie vor als Solitär in der deutschen Literaturlandschaft.

„Karl May ist nicht nur Reise-, sondern zugleich Schlüsselerzähler. Als solcher hat er der gegenwärtigen Literatur vollständig neue, äußerst fruchtbare Gebiete entschloßen.“ Dies schrieb 1909, drei Jahre vor seinem Tod, Old Shatterhand über Kara Ben Nemsi — Karl May über Karl May. Die Zukunft hat es ihm gedankt — nicht nur in den ewigen Jagdgründen. Auch in der ewigen Bestseller-Liste (deutschsprachige Auflage über 80 Millionen) hat sein Name einen guten Klang.

Geboren als fünftes von 14 Kindern eines Webers in der sächsischen Gemeinde Hohenstein-Ernstthal war Karl May bis zu seinem fünften Lebensjahr blind. Diese Phase bezeichnete er später als den Schlüssel für die Entwicklung seiner Phantasie; eine geradezu einzigartige Einbildungskraft: Was die Wirksamkeit von Literatur angeht, überragte dieser „Koloß von einem armen Würstchen“ alles bisher Dagewesene — auch nachdem Arno Schmidt, der ihn so nannte, die „äußerst fruchtbaren Gebiete“ weniger als literarisch-geistige, sondern als eher lüstern-fleischliche enttarnte.

Ein Vierteljahrhundert bevor das „Outing“ zum Medienspektakel wurde, identifizierte Schmidt (Sitara und der Weg dorthin, Fischer TB) die Mayschen Landschaftsbeschreibungen als voluminöse „Organbildungen“: „Nach langem Ritt erreichen die Gefährten einen 200 Schritt breiten, in nackten Felswänden eingelassenen Talkessel, durch dessen Rasengrund ein Wässerchen plätschert, das aus einer merkwürdigen Klamm oder Spalte tritt...“ Immer wieder hat May solche Riesenärsche beschrieben, wobei die Westmänner nach „langer Durststrecke“ endlich in eine „Spalte“, eine „sich plötzlich weitende Höhlung“, ein „verborgenes Waldloch“ oder ähnlich eindeutige Lokalitäten „eindringen“ — meist mit gezogener „Silberbüchse“ versteht sich.

Diese stetige unterschwellige Sexualberieselung mag durchaus zu der unwiderstehlichen Anziehungskraft beigetragen haben, die das Maysche Oeuvre nun schon seit über hundert Jahren ausübt. Doch mit dem, was das verklemmte Würstchen von einem intellektuellen Koloß, Arno Schmidt, in seiner im-po-santen Studie an homoerotischer Metaphorik aus diesen Abenteuern herauslas, läßt sich das Phänomen May ebensowenig in den Griff bekommen wie mit anderen eingleisigen Interpretationen: Den Linken war er mit seinen Deutschtümeleien stets zu rechts, den Rechten war sein Mythos vom „guten Wilden“ und „roten Gentleman“ zu multikulturell, den Atheisten war er zu frömmelnd und den eifernden Missionaren zu verständnisvoll gegenüber „primitiven“ Heiden; den aggressiven Patrioten war er zu pazifistisch, und den wahren Friedensfreunden roch es zu sehr nach Männerschweiß und Pulverdampf. Noch 1964 gerieten seine Romane auf den Index des DDR- Kultusministeriums („Gefährung der humanistischen und sozialistischen Erziehung wegen stark chauvinistischer Inhalte“). Doch auch im Osten blieb die „Indianderphase“ fester Bestandteil deutscher Sozialisation.

„Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die Ohren und hob graziös die feinen Hufe wie zu einem Menuett...“ Ein tanzendes Pferd eröffnet die Erzählung „Old Firehand“, mit der May 1875 seine Mythologie begründet; sie erscheint in der Rubrik „Aus der Mappe eines Vielgereisten“ in 'Schacht und Hütte — den Blättern zur Erbauung und Belehrung des Schacht-Hütten- und Maschinenarbeiters‘. Der 33jährige May ist seit kurzem Redakteur der Zeitschrift und hat zwar ein bewegtes Leben hinter sich, doch eines hat er bis dato weder viel noch überhaupt unternommen: reisen. Im Gegenteil, zuletzt saß er vier Jahre im Zuchthaus Waldheim, wegen Diebstahls (unter anderem eines Pferdes!), Betrugs und Hochstapelei (Führen eines falschen Titels!). Die insgesamt acht Jahre, die May in Königlich Sächsischen Gefängnissen zubrachte, mögen ungerechtfertigt gewesen sein, umsonst waren sie nicht. Denn: „Da wurde der Gedanke an Winnetou geboren, wohlverstanden, der Gedanke, nicht er selbst, den ich erst später fand...“

An der Lüge, daß er als Kara Ben Nemsi und Shatterhand Orient und Okzident bereist habe, hat May auch dann noch festgehalten, als Anfang des Jahrhunderts seine stümperhaft vertuschte Knastkarierre in einigen Gerichtsprozessen aufgerollt wurde. Verbittert mochte er selbst im Zenit seines Alters und Ruhms nicht zugeben, daß er zwar kein großer Held, aber dafür ein umso größerer Dichter sei. Je haltloser die Position dieses gespaltenen Ich wurde — dem die überwältigende Begeisterung des Publikums und die naive Eitelkeit des Autors Vorschub leistete —, desto mehr begann er, sein auf über 50.000 Seiten angewachsenes Opus mystisch zu verbrämen: sein Werk thematisiere die „Menschheitsfrage“; die einzelnen Figuren und Abenteuer stünden für das „Menschheitsproblem“ schlechthin, für das ewige Streben aus den düsteren Tiefen „Ardistans“, wo der „Gewaltmensch“ herrscht, empor in die lichten Höhen „Dschinnistans“, ins Reich des Edelmenschen.

Wenige Jahre bevor er seinen Action-Romanen derart hehren Sinn unterlegte, hatte May noch behauptet: „Jeder Fachmann wird aus meinen Werken ersehen, daß ich solche Studien unmöglich in meiner Studierstube gemacht haben kann. Die Figuren, welche ich bringe (Halef Omar, Winnetou, Old Firehand) haben gelebt oder leben noch und sind meine Freunde...“ Karl May hat seine Fiktionen ins Faktische gezwungen, seine Imaginationen wurden zur Identität, das Phantasma zur zweiten Haut; er ließ sich als Shatterhand und Kara Ben Nemsi fotografieren und nahm hundert Jahre vor der Postmoderne die stilisierte Fake-Identität heutiger Pop-Künstler vorweg.

Vor den Literaturwissenschaftlern blieb dieser geniale Phantast jahrzehntelang verschont, dafür hatte er umso mehr prominente Fans: ob Kaiser Wilhelm oder Karl Liebknecht, Erich Mühsam oder Adolf Hitler, Hermann Hesse oder Ernst Bloch — die unterschiedlichsten Geister bekannten ihre Faszination für die Odyssee des sächsischen Helden Shatterhand. Erst in jüngerer Zeit hat sich auch die Germanistik dem Werk Karl Mays angenommen und vor allem auf die Verfälschungen aufmerksam gemacht, mit denen seine aus Zeitschriftenerzählungen zusammengestellten Romane dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend zurechtgetrimmt wurden. Eine auf 99 Bände konzipierte Originalausgabe des Werks erscheint jetzt im Greno Verlag, und der Bamberger Karl-May-Verlag, unter dessen Federführung die Texte immer wieder „modernisiert“ wurden, gibt zum Jubiläum ebenfalls Reprintausgaben von einigen Erstdrucken heraus — versehen mit den schwer- symbolistischen Illustrationen Sascha Schneiders, die May seinerzeit persönlich auswählte. Die vorzugsweise nackten Männer, die Arno Schmidts These nachhaltig untermauern, wurden sofort nach Mays Tod vom Verlag durch andere Darstellungen ersetzt.

„Dort wo du (noch) nicht bist, wohnt das Glück.“ Ernst Bloch hat die philosophische Variante dieses Lieds gesungen und das „noch“ in der Klammer hinzugefügt; das Faszinosum in Mays Romanen sind weniger die Abenteuer, deren immergleiche Struktur bloß folkloristisch modifiziert wird, als vielmehr die permanente Bewegung, das Nomadisieren, sowohl der Helden als auch der von ihnen besuchten Indianer- und Beduinenvölker: Der wahre Osten ist im Westen — und umgekehrt. Nicht Heimat und Deutschtümelei, sondern das ständige „on the road“ sorgen für den Phantasieraum, in dem sich Millionen von Lesern (und Leserinnen!) heimisch fühlten. Für das, was Beatniks wie Kerouac später mit ihren Autos und der Star Trek heutzutage mit dem Raumschiff Enterprise erledigten, halluzinierte der Pferdedieb May seinen Superhengst Rih, der auf Zuruf den Turbo-Lader zuschaltet.

So unzeitgemäß sein 25schüssiger „Henry-Stutzen“ im Zeitalter der Laserkanone sein mag, so kurios sich seine Beschreibungen fremder Völker heute lesen („Der Türke an sich ist bieder und ehrlich“) und so überholt der vom Kino plattgewalzte Wild-(Ost)-West-Mythos scheint — auch zum 150. Geburtstag und 80 Jahre nach seinem Tod steht Karl May nach wie vor als Solitär in der deutschen Literaturlandschaft. Gäbe es in der Literatur den Begriff des B-Pictures, man müßte ihn als genialen Schöpfer des B-Epos würdigen. Doch selbst damit würde man das Phänomen May nicht in den Griff bekommen. Denn nach wie vor gilt, was sein engster Intimus, Winnetou, einst sagte: „Old Shatterhand ist nicht wie andere Bleichgesichter, überhaupt nicht wie andere Menschen. Man kann ihn nicht begreifen...“ Mathias Bröckers