Wundermittel für Heroinsüchtige?

■ 1972 wurde das Nemexin entdeckt, das der Heroinsucht die Grundlage entzieht/ Die deutschen Ärzte, die sich aus der internationlen Suchtforschung verabschiedet haben, wenden es jedoch kaum an

Berlin. In Berlin gab es letztes Jahr 242 »Drogentote«. Der Landesdrogenbeauftragte Wolfgang Penkert sieht als Ursache für die extrem gestiegene Zahl unter anderem die drastische Zunahme des Wirkstoffanteils beim Straßenheroin.

Seine Behauptungen sind jedoch irreführend, wenn nicht gar falsch. An reinem Heroin stirbt kaum jemand, und schon gar nicht an einer sogenannten »Überdosis«. Medizinisch ist die Sache simpel und seit fast zwanzig Jahren bekannt. Die reine Wirksubstanz des Opiums ist das Morphium. 1898 gewann ein Pharmakologe der Firma Bayer aus Morphin und Essigsäureanhydrid den Stoff Diacetylmorphin, sechsmal stärker wirkend als der Ausgangsstoff, genannt Heroin.

Die Droge Heroin hat eine paradoxe und gefährliche Eigenschaft: sie macht extrem abhängig und führt bei Absetzen zu Entzugserscheinungen, schädigt andererseits den Körper nicht, selbst nicht bei langjährigem Gebrauch.

Erst Anfang der siebziger Jahre entdeckten Neuropharmakologen, warum manche Menschen so scharf danach sind. Die Nervenzellen des menschlichen Gehirns produzieren eine körpereigene Substanz, die ganz ähnlich wirkt: das Endorphin — inneres Morphium. In Todesangst, beim Orgasmus, bei religiöser Ekstase, aber auch bei körperlichen Höchstleistungen wird es ausgeschüttet.

Das körpereigene Endorphin ist ein Botenstoff, ein Neurotransmitter, der die Aktivität der Nervenzellen und damit Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen steuert. Für Endorphine und alle von außen zugeführten Opiate sind spezielle Rezeptoren an Nervenzellen zuständig. Sie werden vom limbischen System, einem entwicklungsgeschichtlich sehr alten Teil des Gehirns, absorbiert. Dort reguliert sich der Seelenhaushalt. Das, was die Natur offenbar nur für Extremsituationen vorgesehen hat, löst Heroin künstlich und in Permanenz aus: die Essenz des Glücks. Im Gegensatz dazu greifen die viel schädlicheren Halluzinogene, wie LSD oder Meskalin, die höheren Gehirnfunktionen an.

Die Opiatrezeptoren des Körpers sind nicht unbegrenzt aufnahmefähig. Bei jedem Süchtigen pendelt sich eine bestimmte Menge ein. Alles, was darüber hinaus injiziert oder eingenommen wird — eine »Überdosis« — ist ein »Schuß in den Ofen«. Deshalb gibt es auch, was Heroin betrifft, keine »Drogentoten«.

1972 entdeckten Forscher eine chemische Substanz, die sensationelle Erfolge bei der Behandlung von Opiatabhängigen versprach, das Naltrexon. Dieser Stoff, seit einem Jahr unter dem Markennamen Nemexin auf dem deutschen Markt, ist ein sogenannter Morphin-Antagonist: Er verdrängt Opiate von den Rezeptoren und bindet sich stärker an sie als die Drogen. Nimmt ein Junkie das Medikament regelmäßig, funktioniert es wie in der Geschichte vom Hasen und dem Igel: Das gespritzte Heroin verpufft wirkungslos, weil das Nemexin schon den Platz besetzt hat, wo die Droge wirken soll.

Nemexin hat gegenüber der Substitution des Heroins durch andere Opiate — wie Polamidon oder weniger starkes Kodein — den Vorteil, daß es selbst nicht süchtig macht. Kliniken, die das Medikament als Nüchternheitshilfe für Ex-Junkies einsetzen, wie die Medizinische Universitätsklinik in Wien oder die psychiatrische Universitätsklinik in Basel, ziehen es sogar der Substitution vor. Prof. Wolfgang Keub, ehemaliger Direktor der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf: »Es sollte zuerst ein Therapieversuch mit Nemexin unternommen werden, bevor die Vergabe von Methadon in Frage kommt.«

Da sich aber die deutschen Ärzte schon seit langem aus der internationalen Suchtforschung verabschiedet haben, ist Nemexin kaum bekannt. Hier setzt man, im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern, auf Zwangsbehandlung und Abstinenz. Der Erfolg ist gleich null. Selbst Einrichtungen wie Synanon, die nach der Maxime »Arbeit macht drogenfrei« vor sich hinwurschteln, haben eine »Erfolgsquote« unter zehn Prozent — und mit die höchste Sterbequote bei Rückfälligen. Der Kieler Arzt Gorm Grimm behauptet: »Unglücksfälle und Selbstmorde machen daher 100 Prozent der ‘Drogentoten‚ aus.«

Die Behandlung mit Nemexin hat nur zwei Haken: Der oder die Abhängige muß auch psychologisch betreut werden. Das Medikament heilt die körperliche, nicht die seelische Abhängigkeit. Wer rückfällig werden will, muß es nur absetzen. Und: Da die Krankenkassen sich auf die Kompetenz der Mediziner verlassen, in ganz Berlin aber nur ein halbes Dutzend Ärzte schon mal das Wort Nemexin gehört haben, zahlen sie bis jetzt nicht. Die kleinste Packung, die für fast zwei Monate reicht, kostet knapp 500 Mark. Die wird kaum ein Junkie vor seinem Entzug sparen können. Burkhard Schröder