DEBATTE
: Der Ärger mit Schengen

■ Plädoyer gegen die Entmachtung der nationalen Parlamente

Die Ratifizierung des Abkommens von Schengen wirft in den Niederlanden ernsthafte Probleme auf. Der Zweck dieses Abkommens ist es, über eine Aufhebung der Grenzkontrollen zwischen acht Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Freizügigkeit von Personen zu erleichtern. Wer sollte das nicht unterschreiben? Aber „Schengen“ ist nicht nur das: Das Abkommen sieht auch kompensatorische Maßnahmen vor, die den Verlust der Grenzkontrolle mehr als aufwiegen sollen.

„Schengen“ kann zur Errichtung einer Festung Europa werden — mit mehr Freizügigkeit für die einen und weniger Freiheit für die andern. Angesichts der Angst vor einer massiven Einwanderung können die Übereinkommen zu einem Instrument werden, das es Europa gestattet, sich hinter hermetische Grenzen zurückzuziehen.

„Schengen“ kann zu weniger Demokratie führen, zu noch mehr undurchsichtigen Regeln und weniger Freiheit. Deshalb bereitet das Abkommen dem niederländischen Parlament unendlich viel mehr Schwierigkeiten als der Nationalversammlung und dem Senat in Frankreich, die es im vergangenen Juni eher leichthin ratifiziert haben. Wir hingegen haben das noch nicht getan, und es ist absolut nicht sicher, daß wir es tun werden.

Handelt es sich wieder einmal um einen Fall von Obstruktion? Versteifen sich die Holländer auf Prinzipien und sind blind für das Machbare, wenn es um die europäische Integration geht? Ist das wieder ein Ausdruck von angeblichem Idealismus der besserwisserischen Holländer wie damals ihr — demokratischeres— Projekt einer europäischen politischen Union, das 1991 Schiffbruch erlitten hat?

Die Frage der Öffnung der Grenzen für Personen ist stärker mit Vorurteilen belastet als die der freien Zirkulation der Güter, der Dienstleistungen und des Kapitals. Bei Personen sind sogleich die Probleme der Menschenrechte und der öffentlichen Freiheit im Spiel. Die elektronische Speicherung personenbezogener Daten ist schließlich etwas anderes als die Speicherung von Daten über die Mehrwertsteuer!

Im übrigen wirft „Schengen“ die Frage auf, ob Europa es schaffen wird, eine ausgewogene und menschliche Einwanderungspolitik einzuführen. Denn das Abkommen kann auch zu einer Art Anpassungsmechanismus führen, in dem der am wenigsten gastfreundliche Staat dem übrigen Europa seine Flüchtlings- und Migrationspolitik diktiert.

Das Schengener Abkommen von 1990 wurde von den Unterzeichnerstaaten in der größten Verschwiegenheit ausgehandelt, eine parlamentarische Kontrolle vor der Unterzeichnung hat sich als schwierig erwiesen: Die betreffenden Texte waren nicht verfügbar... Weil die französischen Verhandler — und andere — meinten, daß die Parlamente nicht unnötig in die Sache hineingezogen werden sollten. Nur durch unsere eigene Initiative konnten wir während der Verhandlungen offenlegen, was „Schengen“ hieß: erstens ein komplizierter Text mit mehr als 140 Paragraphen; zweitens ein Vertrag, der mehr Folgen haben würde als drei Viertel aller von einer nationalen Gesetzgebung verabschiedeten Gesetze.

Vom Standpunkt der Demokratie aus ist absolut inakzeptabel, daß die Parlamente an dem Text nichts mehr ändern können — man muß ihn „annehmen oder ablehnen“, ohne die geringste Möglichkeit einer Modifikation. Dagegen wird eingewandt, daß Staaten andernfalls gar keine internationalen Verträge mehr schließen könnten. Aber diese Verfahrensweise, die des 19. Jahrhunderts würdig ist, mag praktikabel sein, wenn es um die Normgröße von Marmeladengläsern oder die Frage der Doppelbesteuerung geht — sie ist es nicht, wenn es um eine wichtige Reduktion der eigenen Macht geht.

Deshalb hat die zweite Kammer des niederländischen Parlaments in von ihrer Regierung in entscheidenden Punkten eine Änderung des Schengener Abkommens verlangt.

Die nationalen Parlamente müssen Kontrollrechte haben

Wie lauten unsere Haupteinwände?

1. Der durch „Schengen“ eröffnete Raum braucht eine rechtsprechende Instanz. Bisher ist kein internationaler Gerichtshof vorgesehen, der die Anwendung des Schengener Rechts kontrolliert. Wir wollen, daß diese Zuständigkeit an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft geht. Dies ist um so notwendiger, als der europäische Gipfel von Maastricht gezeigt hat, daß der freie Personenverkehr in der EG bisher keineswegs geregelt ist. „Schengen“ wird also kein Übergangsregime zu einem Gemeinschaftsrecht sein, sondern das Abkommen selbst schreibt dieses Recht für eine lange Zeit fest. Es ist darum logisch, daß ein Gerichtshof über die einheitliche Anwendung und Interpretation des Schengener Abkommens in den Unterzeichnerstaaten wacht. Es wäre zum Beispiel nicht zulässig, daß zwei Staaten das Asylrecht oder die Frage der Computerspeicherung von personenbezogenen Daten unterschiedlich interpretieren.

2. Ein Schengener Exekutivkomitee muß gegründet und mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet werden. In ihrem gegenwärtigen Zustand erlauben die Gesetzestexte keine ausreichende parlamentarische Kontrolle der Verwaltung. Alles kann unter Ausschluß der Öffentlichkeit entschieden werden, die Bürger und ihre gewählten Vertreter brauchen erst im nachhinein informiert zu werden. Uns erscheint logisch, daß Entscheidungsvorhaben allgemeinerer Bedeutung, die das Exekutivkomitee zu treffen hätte, vorher veröffentlicht werden sollten. Falls das nicht geschieht, haben die nationalen Parlamente keinerlei Einfluß auf Beschlüsse des Exekutivkomitees mit ihren unter Umständen schwerwiegenden Konsequenzen, zum Beispiel auf dem Gebiet des Asylrechts oder der Einwanderungspolitik. Wir fordern, daß derartige Regelungen allgemeiner Bedeutung so rechtzeitig publiziert werden, daß die nationalen Parlamente in der Lage sind, sie zu beraten und gegebenenfalls ihren Regierungen konkrete Auflagen zu machen.

3. Im niederländischen Parlament gibt es zahlreiche Stimmen, die die Anwendbarkeit der ins Auge gefaßten Asylregelungen bezweifeln. Das Schengener Abkommen sieht vor, daß ein Asylsuchender sein Gesuch nur in einem Land stellen kann. Aber wie soll dieses Prinzip angesichts der Tatsache funktionieren, daß die Praxis des Asylverfahrens in den verschiedenen Ländern so große Unterschiede aufweist? Der französische Verfassungsrat hat den Grundsatz für rechtens erklärt, nach dem „jeder verfolgte ausländische Bürger, der für die Freiheit eingetreten ist, ein Recht auf Asyl auf französischem Territorium hat“. Wer diesem Kriterium entspricht, wird das Asyl genießen (Entscheidung des Verfassungsrats vom 25. Juli 1981). Die deutsche Verfassung legt in ihrem Artikel 16 fest, daß alle politischen Flüchtlinge das Recht auf Asyl haben. In Deutschland werden alle politischen Asylanträge auch weiterhin der Überprüfung unterliegen. Man muß sich tatsächlich fragen, ob das Asylrecht harmonisiert werden kann, wenn nicht zuerst die Behandlung der Asylgesuche vereinheitlicht wird. Ein internationaler Gerichtshof sollte über diesen rechtlichen Annäherungsprozeß wachen, indem er eine einheitliche Spruchtätigkeit entfaltet, wie es bereits in anderen Rechtsfeldern der EG der Fall ist. Falls dies unterbleibt, besteht die große Gefahr, daß das Asylrecht den Weg einer nach unten führenden Spirale nimmt.

Es gibt einen weitreichenden Wunsch, das demokratische Defizit in den europäischen Institutionen zu vermindern. Jeden Sonntag werden Fensterreden über das Europa der Bürger gehalten. Deshalb ist es unannehmbar, daß die Parlamente nur „ja und amen“ sagen können zu dem, was auf Regierungsebene bereits vereinbart worden ist. Wir sehen, wie die mit Schengen befaßten Beamten die Stirn runzeln. Ihre Regierungen müssen begreifen, daß die nationalen Parlamente sich nicht damit begnügen können, bloß ja oder nein zu sagen. Vor allem nicht zu einem Zeitpunkt, wo der Gipfel von Maastricht gezeigt hat, wie wenig man vom europäischen Parlament hält. Maarten Van Traa

Parlamentsabgeordneter der niederländischen (sozialistischen) Partei der Arbeit (PvDA)