Mit Blaulicht durch die Nacht

Ohne Rücksicht auf Verluste und unter strammer deutscher Führung bretterte ein Hilfskonvoi des Technischen Hilfswerks in drei Tagen von Berlin nach St. Petersburg. Das THW trieb die „Sommerfahrer“ aus Perleberg durch Schnee und Eis  ■ VON PLUTONIA PLARRE

Hilfskonvois nach Rußland schön und gut, aber wie sie im Detail vonstatten gehen, grenzt bisweilen ans Kriminelle. Jedenfalls war dies bei einem Konvoi der Fall, der unlängst vom Technischen Hilfswerk (THW) im Auftrag des Berliner Bezirksamts Neukölln nach Puschkin bei St. Petersburg durchgeführt wurde. Leidtragende waren die Fahrer. Normalerweise brauchen Laster für die 2.000 Kilometer lange Strecke im Winter mindestens fünf Tage. Der Berliner Konvoi schaffte es in der Rekordzeit von drei Tagen.

Es ist Freitag, der 14.Februar, sechs Uhr morgens. Eine Polizeieskorte geleitet den Konvoi, vier Sattelzüge und zwei Begleitbusse, an den Berliner Stadtrand. Dort übernimmt der THW-Kleinbus die Führung: mit Blaulicht. Am Steuer sitzt Michael Knaack, Konvoiführer des Hilfswerks, daneben der Transportleiter des Neuköllner Bezirksamts Olaf Thran (40), Mitglied der Freiwilligen Polizeireserve und im Bauamt für das Schornsteinfegerwesen zuständig, und die taz-Reporterin. Der 35jährige Knaack hat Erfahrung mit Auslandseinsätzen — und Ehrgeiz, aber keinen LKW-Führerschein. Dafür aber ein Funkgerät, mit dem er Anweisungen zum Kleinbus des Bezirksamts Neukölln gibt, dem Schlußlicht des Konvois.

Straße frei — die Deutschen kommen

Die Fahrer der vier Sattelschlepper, zwei pro Zug, kommen aus Perleberg in Brandenburg, sind Profis der Landstraße, auch wenn keiner von ihnen zuvor in Rußland war. Für die Dauer der Fahrt mußten sie sich verpflichten, THW-Mitglieder zu werden und den Richtlinien und Anweisungen des Konvoiführers Folge zu leisten. Herr Zehnder, Sachbearbeiter des THW-Berlin sicherte den Fahrern jedoch zu, daß sie über die Fahrweise selbst entscheiden könnten und die gesetzlichen Lenk- und Ruhezeiten voll eingehalten werden würden: Laut Richtlinien wird viereinhalb Stunden gefahren und eine dreiviertel Stunde pausiert, lösen sich zwei Fahrer ab, müssen beide nach 22 Stunden Arbeitszeit 11 Stunden Pause einlegen.

Der Konvoi werde, so Zehnder, von dem „Rußland-Experten“ Michael Knaack geleitet, denn er kenne sich mit den Zollformalitäten an den Grenzen aus, wisse mit Bestechungsmaterial umzugehen und sei darüber im Bilde, wo es Diesel zu kaufen gäbe. Die Fahrer haben vor der Abfahrt drei Stunden geschlafen, weil sich die Beladung der Laster bis spät in die Nacht hinzog. Auf dem Berliner Ring verfährt sich Knaack zum ersten Mal. Man wendet im Berufsverkehr, den Knaack mit Hilfe eines Leuchtstabs zum Stehen zwingt. Beim ersten Halt auf einer Tankstelle gibt er Anweisung, strikt Kolonne zu fahren, umreißt die Fahrtroute Warschau-Brest-Minsk-Petersburg und offenbart dann, daß noch kein Transitvisum für Polen existiert. Der Konvoi müsse in der Kaserne des Bundesgrenzschutzes in Frankfurt/ Oder solange warten, bis die Papiere von Berlin nachgebracht würden. Vor der Weiterfahrt teilt Transportleiter Thran an jedes Fahrzeug Baseball-Schläger und CS-Gasdosen aus, „eine Spende des Neuköllner Sporthauses Rothe, falls wir unterwegs überfallen werden“. Bei der Suche nach der BGS-Kaserne verfährt sich Knaack zum zweiten Mal. Als das Visum nach zwei Stunden — mittlerweile ist es 11.00 Uhr geworden — eintrifft, stellt sich heraus, daß es keine Zollpapiere gibt. Die Fahrer fangen an, unruhig zu werden: Schließlich will Knaack noch in dieser Nacht die 900 Kilometer nach Brest durchbrettern.

Während sich die Fahrer in ihren Kabinen aufs Ohr hauen, machen sich Knaack und Thran allein zur Grenze auf. Nach einer Stunde kehren sie mit der Nachricht zurück, man könne sich den Schein selbst ausstellen. Um 12.50 bläst Knaack zum Aufbruch: Er schaltet sein Blaulicht ein und führt den Konvoi auf der linken Fahrspur an der kilometerlangen Warteschlange der Lastwagen vorbei zur polnischen Grenze. Nach einigem Hin und Her — die Zöllner akzeptieren zunächst nicht, daß das Transitvisum ein Telefax ist — werden schließlich um 14.00 Uhr doch die Plomben angebracht. Jetzt geht die Fahrt erst richtig los.

Bis zur Ankunft in Warschau gegen 23.30 Uhr gibt es keine Probleme. Eigentlich ist dem Fernlastverkehr die Durchfahrt durch die Stadt untersagt, aber weil der Umweg von 150 Kilometern Zeit kosten würde, greift Knaack erneut zum Blaulicht. Polnische Kleinwagen und Laster werden von den Deutschen zur Seite gescheucht.

Teutonischer Streit um zehn Mark Zoll

Um zwei Uhr ist die polnische Grenze zu Belorußland erreicht. Wieder drängelt sich der Konvoi mit Blaulicht an der Schlange völlig übermüdeter Lastwagenfahrer zum Schlagbaum vor. Die normale Wartezeit beträgt hier bis zu 12 Stunden und länger. Aber diesmal gibt es auch für uns eine Verzögerung von vier Stunden: Knaack weigert sich mit Verweis auf seine Sonderrechte hartnäckig, läppische zehn Mark Zoll zu bezahlen. Außerdem hat er im Grenzbereich einen Feuerwehr- Hilfskonvoi aus Süddeutschland gesichtet, der von den polnischen Zöllnern schon acht Stunden aufgehalten wird, weil die Wagen nicht verplombt sind. Knaack will die Feuerwehrleute partout ins Schlepp nehmen, auch wenn die Grenze dabei durchbrochen werden muß. Um sein Ziel zu erreichen, wird er gegenüber den polnischen Zöllnern ausfallend: „Das wird ein Nachspiel in Bonn haben“, hallt es über den Grenzstreifen. Im Eifer des Gefechts fällt der THW-Konvoiführer in eine unbeleuchte LKW-Grube und zieht sich dabei so schwere Prellungen zu, daß er für den Rest der Tour als Fahrer ausfällt. Um sechs Uhr morgens passiert die Berliner Hilfstruppe endlich die Grenze — ohne den Feuerwehrkonvoi. Nach 24 Stunden Fahrt dürfen sich die Fahrer in Brest endlich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen.

Am Nachmittag geht es weiter. Fahrtziel ist Minsk, 350 Kilometer entfernt. Es schneit und wird kälter. Nach der Ankunft in Minsk wird kräftig gefeiert, dementsprechend kurz wird die Nacht. Um 6.30 beginnt die letzte große Etappe nach Petersburg, das immer noch über 700 Kilometer entfernt liegt. Jetzt beweist Knaack, daß er ein wirklicher Rußlandexperte ist: Statt über die vergleichsweise gute Fernstraße leitet er den Konvoi über eine Nebenstraße. Die schmale Fahrbahn ist von Schlaglöchern übersät, kaum beschildert. Knaack leitet den Konvoi mehrmals in die Tundra, es wird kälter und kälter, der Schnee am Straßenrand immer höher. Die Fahrbahn ist spiegelglatt. Knaack will das nicht wahrhaben und treibt die Fahrer rücksichtslos an. Diese aber weigern sich, schneller als 40 Stundenkilometer zu fahren, sie haben Angst, daß ihnen ihre 40-Tonner aus der Kurve rutscht. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen. „Wir sprechen uns an anderer Stelle wieder“, droht Knaack. Als es endlich weitergeht, fährt sein Begleiter Thran im Führungsfahrzeug in schnellem Tempo vor. Natürlich verlieren die beiden dabei den Konvoi aus dem Rückspiegel. Sie denken überhaupt nicht daran, anzuhalten, und fluchen über die „Sommerfahrer“. Sechs Kilometer hinter einem Berg holt der Neuköllner Begleitbus auf. „Haltet endlich an“, schreit der Fahrer Peter Zierer, ein Laster sei am Berg hängengeblieben. Schneeketten müßten angelegt werden. Das jedoch ficht Knaack und Thran nicht an — „die Russen fahren doch auch schneller“. Zierers Kritik, Knaack habe die Straße falsch ausgesucht, wehren die Chefs ab: Beim THW werde nicht diskutiert, sondern ausgeführt, was der Konvoiführer befehle.

Auf Nebenstraßen durch Eis und Schnee

Unterdessen steht einer der Lastwagen ohne Funk oder Sichtkontakt zu anderen allein im Wald. Wenn überhaupt, dann könnte er jetzt überfallen werden — und genau solch ein Fall soll eigentlich durch das Konvoifahren verhindert werden. Doch Thran denkt nicht daran, umzukehren. Grund: Das Technische Hilfswerk hat den Bus ohne Winterreifen nach Rußland geschickt. Bei minus zehn Grad und Vollmond, der die schneebeckten Tannen in fahles glitzerndes Licht taucht, kämpft man sich im Schritt-Tempo durch die Nacht. An einem eisigen Berg müssen die Fahrer des kleinsten Lasters erneut Schneeketten anlegen. Es kommt immer wieder zu neuen Pausen, weil bei einem LKW das Einspritzsystem einfriert und mühsam entlüftet werden muß.

Das bedeutete Zeitverlust, schneller fahren — wozu das führen kann, sieht man an einer Brücke. Ein russischer LKW, der zuvor mit 70 oder 80 Sachen überholt hatte, war in ein tiefes Schlagloch gebrettert, durch die Brüstung gebrochen und hängt nun halb im Abgrund. Das ist die Bestätigung für die deutschen Fahrer. Konsequent halten sie die Tachonadel auf 40 Stundenkilometern und zwingen das Führungsfahrzeug, gleichzuziehen. „Die haben doch keine Ahnung, wie man so einen Koffer fährt!“ schimpft Thran.

Der „Ehrenkodex“ des THW und der Tod

Auf der Tankstelle in Luga, 100 Kilometer vor St. Petersburg, springt einer der LKWs nicht mehr an und muß angezogen werden. Dabei verkeilt sich der Laster so in einem Baum, daß dieser gefällt werden muß. Nach 24 Stunden Fahrt kommen wir bei Sonnenaufgang in Puschkin an. Kaum sind Motoren ausgeschaltet, fallen die Fahrer vorn über das Lenkrad und schlafen ein. Für den Konvoiführer Knaack steht nach dieser Tour fest, daß er so etwas in Zukunft nur noch mit ausgebildeten THW-Helfern und nie wieder mit gewerblichen Kraftfahrern machen werde. Knaack:„Es gibt einen Ehrenkodex, die Strecke in drei Tagen zu schaffen und daraus keinen Urlaub zu machen.“

Zeitgleich mit dem Berliner Transport fuhr ein anderer Hilfskonvoi des Technischen Hilfswerks aus Moskau in die Heimat zurück: Einer der THW-LKWs geriet auf die Gegenfahrbahn, prallte auf einen russischen Sattelschlepper — der 59jährige Fahrer und sein Beifahrer kamen dabei ums Leben.