„Wir sind den USA weit voraus“

Der größte Rüstungs- und Weltraumkonzern der ehemaligen Sowjetunion drängt auf den Weltmarkt/ Die Produktpalette reicht von Raketen, Teigknetmaschinen bis zu Kinderschlitten  ■ Aus Moskau Gisbert Mrozek

Statt gewaltiger Weltraumraketen baut man jetzt Teigknetmaschinen. Hinter den Hallen, aus der das Rüstzeug für die sowjetische Atomraketensupermacht stammte, werden Schweine für die Belegschaft gemästet. Raketenkonstrukteure rüsten um auf Kinderschlittenbau. Und: Wo früher atomare Interkontinentalraketen für das letzte Gefecht gebaut wurden, entstehen heute Supertriebwerke für die ehemaligen Klassenfeinde.

Generaldirektor Boris Katorgin versucht mit dieser Umstrukturierung das Überleben seines Konzern Energomasch zu sichern. Der mächtigste sowjetische Rüstungshersteller in Moskau, vor dessen Produkten die Welt zitterte, bangt nun um seine eigene Zukunft. Staatsaufträge und -subventionen gibt es kaum noch. Und weil die Umrüstung von Super- Raketentriebwerken auf Kinderschlittenbau und Backofenausrüstung nicht zu schnellem Erfolg führt, favorisiert Boris Katorgin, der nicht nur der letzte Energomasch- Boß, sondern auch Chefkonstrukteur ist, zusätzlich den Triebwerkhandel auf dem Weltraumraketen- Markt: „Wir träumen davon, mit unseren Triebwerken richtig Geld zu verdienen.“ Wenn der Start mißlingt, ist die Raketenschmiede in kürzester Zeit bankrott. Und darum öffnet der streng bewachte Rüstungsbetrieb erstmals sein Allerheiligstes sogar für Fotoreporter: Public Relations, nun auch in Moskau.

Gleich hinter der großen Eisentür bietet sich ein beeindruckendes Bild. Aus der Mitte des riesigen Energomasch-Geländes streckt sich eine weiße Wasserdampfsäule anderthalb Kilometer in den Himmel. Hier, am Stadtrand von Moskau, werden Raketentriebwerktests durchgeführt. 740 Tonnen Schub entwickeln die RD-170-Düsen am Boden. Die Kraft, die nötig ist, um mit der turmhohen Energierakete „Sojus“ Weltraumstationen in den Himmel zu heben. All das geschieht nur einen Kilometer vom nächsten Wohngebiet entfernt. Direkt an der Straße vom Internationalen Flughafen Scheremetjewo zum Kreml. „Im Wald nebenan wachsen Pilze und Beeren vorzüglich“, schwärmt der hier zuständige Konstrukteur Sacharow. Der 120 Meter hohe Turm sei eigentlich nichts anderes als ein riesiger Auspuff: Mit zweitausend Grad Celsius jagen die Gase vom Raketenstand durch die sechs Meter dicken Rohre — zuerst durch ein Wasserbassin, dann durch einen Katalysator und in den Himmel. Das alles geschieht lautlos, kontrolliert nur von Meßinstrumenten.

Boris Katorgin, der stolz in die Runde zeigt, ist aber nicht nur ein Meister im Raketenbau. Nebenbei hat er sich schon seit Jahren der Kunst der Selbstverteidigung verschrieben. Nachdem er tagsüber Triebwerke entwickelt hat, wird abends Judo und Jiu-Jitsu geübt. Doch in letzter Zeit bleibt kaum eine freie Minute. Der Kampf ums Überleben seines Betriebes hat Vorrang. Schließlich geht es um 12.000 Spezialisten, Konstrukteure und Ingenieure von Weltrang.

„Unsere Raketentriebwerke RD120 und RD170 sind der NASA um sieben bis zehn Jahre voraus. Sie brauchen 1,5mal weniger Treibstoff. Das Gewichts-Leistungs-Verhältnis ist um 15 Prozent besser als bei den NASA-Raketen. Und weil wir mit flüssigem Sauerstoff und Kerosin arbeiten, sind unsere Motoren ökologisch praktisch unbedenklich.“ Boris Iwanowitsch Katorgin ist stolz auf diese Produktvorzüge. „Alle bemannten Raumflüge der UdSSR wurden mit unseren Triebwerken gestartet. Von uns stammen die Motoren für Energia, die stärkste Rakete der Welt. Außerdem werden unsere Zenit-Triebwerke automatisch mit Treibstoff versorgt, das schafft die USA erst in drei bis fünf Jahrzehnten.“

Trotzdem ist noch keines der Triebwerke auf dem internationalen Markt verkauft worden. Obwohl die Japaner interessiert sind und bereits Verhandlungen mit der Europäischen Raumfahrtbehörde laufen. Ariane, so die Idee, könnte mit Energomasch-Hilfe leistungsfähiger werden. Eigentlich müßte das Angebot von Energomasch wenigstens einige Käufer locken: „Wir verkaufen Triebwerke in jeder Größe, Einzelteile und Know-how. Jede beliebige Technologie wird nach Kundenauftrag entwickelt. Neben Raketentechnologie können wir auch Milchseparatoren, Backöfen, Heizungen, Teigknetmaschinen, Autoauspuffe, Gemüsekonserven, Pumpen aller Art, Katamarane und Kinderschlitten auf Bestellung herstellen“, sagt Boris Katorgin und kann sich nicht so recht erklären, warum das Geschäft nicht läuft. Selbst die Amerikaner, die das Werk inspiziert hätten, seien beeindruckt gewesen. „Aber unterschrieben haben sie nur eine Absichtserklärung. Ein Jahr lang treten wir jetzt schon auf der Stelle.“

Abwarten, bis die gefürchtete Ex- Sowjet-Konkurrenz pleite ist? Das Ergebnis dieser Geschäftstaktik könnte allerdings ein durchaus unerwünschtes sein. Denn die Spezialisten, die aus den Energomasch-Konstruktionsbüros flüchten, könnten allzuleicht einen Arbeitsplatz in Syrien, Indien oder Südafrika finden. Bei einem Monatsgehalt von maximal 2.000 Rubel, bei der derzeitigen Inflation ein Pfennigbetrag, ist fast jedes Angebot aus dem Ausland attraktiv.

Derweil läßt die Reform Boris Jelzins auf sich warten. „Noch immer werden wir von der alten Ministerialbürokratie rumkommandiert“, schimpft Katorgin. Die Anweisungen kommen zwar seit dem Putsch nicht mehr aus dem Ministerium für allgemeinen Maschinenbau, sondern aus dem neugebildeten Departement — aber noch immer von den alten Schreibtischen. „Seit dem Sommer versuchen wir, Energomasch in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Die Dokumente sind fertig — aber wir warten noch immer auf die Unterschrift.“ Über die Regierung durch die Jelzin-Crew hat er ein festes Urteil: „Die handeln anders, als sie reden.“