Butoh-Tanz im Disneyland

■ Ein Doppelprogramm mit Tatoeba und Gayle Tufts in der Theatermanufaktur

Wären da nicht zu Beginn zwei Gestalten durch das Halbdunkel der Halle gehuscht, die unförmigen Objekte in der Bühnenmitte hätten dem Zuschauer ein echtes Rätsel aufgegeben. Eierschalenfarbene Stoffbahnen umrahmen ein Stück weißgepudertes Rückenfleisch, am Boden rafft sich Baumwollenes, Arme, Beine oder Köpfe sind nicht zu sehen.

Die leblosen Häufchen scheinen die Zenfähigkeit ihres westlichen Publikums testen zu wollen: Minutenlang dürfen sich dessen reizerprobte Sinne an einem kaum wahrnehmbaren Zittern dieser embryonalen Wesen laben. Langsam, langsam regt sich Leben in der Eierschale, dem ersten Häufchen wächst eine Art Blütenkopf. Ein Hauch von Japan macht sich breit — die meditative Stimmung lebt von der Ästhetik des Augenblicks. Sensible Lichtwechsel lassen den Zuschauer bereitwillig in dieses Zengemälde versinken. Zwei aufrechte Tafeln, Imitationen eines schiefergedeckten Daches, bestimmen das enorm schlichte, aber absolut stimmige Bühnenbild. Ikebana on stage sozusagen, eine Komposition, die nur aus japanischer Geschmackssicherheit entstehen kann.

Dabei hat sich der Butho gerade die Rebellion gegen die Ästhetik, speziell die Ästhetik des Körpers, auf die Fahnen geschrieben: bei einwärts gedrehten Füßen, gebeugten Knien, oftmals krummen Rücken und Gesichtern, die zur Grimasse verzerrt sind, steht ein Maximum an Ausdruck einem Minimum an traditionellem Schönheitsideal gegenüber. Die Tanzenden kreieren unentwegt Bilder, die die physikalischen Gesetzmäßigkeiten menschlicher Bewegung überwunden zu haben scheinen. Die Gliedmaßen führen zeitweilig eine voneinander völlig unabhängige Existenz. Äußere Einflüsse scheinen den Körper wie ein böser Geist besessen zu halten — da verfällt der Leib minutenlang in konvulsische Zuckungen, um unvermittelt in einen Zustand sanftlächender Seligkeit zu gelangen. Emotionen beherrschen die Akteure bis zur Ekstase, eine Kontrollinstanz, ein Über-Ich, das Verhalten bewertet und selektiert, scheint abhanden gekommen zu sein. Die Mimik ist immer ein untrennbarer Bestandteil der Bewegungsabläufe. Meist ist sie extrem und verzerrt, Grimassen von einer Ausdrucksstärke und Variationsbreite, die mit einem europäischem Gesicht nicht nachzuahmen sind.

Minako Seki und Yumiko Yoshioka beherrschen den Tanz durch die Gefühle mit einer Präsenz, die an Selbstaufgabe grenzt. Mit jeder Faser ihres Körpers leben sie in der dargestellten Emotion, nie kommt eine Distanz zur Rolle auf. Mit einem Sprung stehen die beiden Seite an Seite. Ihre Körper wenden sich einander zu, mit schüchterner Zärtlichkeit erforschen sie das Gesicht der anderen. Das ist berührender als eine Kußszene im Kino. Bis urplötzlich Yumiko ihr Gesicht an Minakos Busen preßt, geräuschvolle Schnüffellaute ausstoßend. Die wendet sich pikiert ab, um es ihr Sekunden später nachzutun.

Leider probieren sich die Veranstalter von der Theatermanufaktur mit einer sehr gewagten Programmkombination. Die zweite Hälfte des Abends bestreitet die Amerikanerin Gayle Tufts mit ihren Songs. Nichts gegen die Stimmgewalt dieser Dame. Innerhalb kürzester Zeit verwandelt sie den Geruch von Zen in eine klischeehaft amerikanische Disneylandschaft. Frisch aus der meditativen Versunkenheit entlassen, darf das Publikum jetzt aufstehen, sich schütteln und Seifenblasen machen. Wir haben uns alle so lieb und sind doch eigentlich nur zu groß geratene Kinder. Mag das Ansinnen dieses erdballumspannenden Kontrastprogramms löblich gewesen sein, eine unsensiblere Kombination von Gegensätzen kann ich mir kaum vorstellen. Antje Braunschweig

Weitere Vorstellungen bis Sonntag, jeweils 21 Uhr. Theatermanufaktur am Halleschen Ufer